Gebietsreformen: Mehr Risiken als Chancen
von Sebastian Blesse, 29.06.2018Die in den 1960er- und 1970er-Jahren in Österreich verbreitete „Fusionitis“ schien schon fast ausgestorben. In diesen Jahren fusionierten etliche Bundesländer ihre Gemeinden im großen Stil. Innerhalb kürzester Zeit sank die Zahl der Gemeinden von vormals rund 4.000 auf etwa 2.300. Lange Jahre passierte dann wenig, bis im Jahr 2015 die steirische Gemeindestrukturreform für neue Aufmerksamkeit sorgte. Nach hitzigen Diskussionen wurde die Zahl der Gemeinden in der Steiermark schließlich nahezu halbiert. Inzwischen werden auch in anderen Bundesländern Gemeindefusionen wieder verstärkt diskutiert. Das Hauptargument: Größere Gemeindeverwaltungen seien schlagkräftiger und deshalb besser für die Zukunft gerüstet. Aber stimmt das wirklich?
Größer ist nicht billiger
Bei Gebietsreformen werden mehrere kleinere Gemeindeverwaltungen zu einer größeren Verwaltung zusammengelegt. Das soll im Regelfall Geld sparen oder zumindest die Leistungsfähigkeit der Verwaltungen verbessern. Dahinter steht die Idee sogenannter Skaleneffekte: Die größere Verwaltung ist mehr als nur die Summe mehrerer kleinerer Verwaltungen, sondern liefert einen zusätzlichen Mehrwert. Verwaltungsleistungen sollen dann zu einer besseren Qualität und niedrigeren Kosten erbracht werden.
Soweit die jahrzehntelang nahezu unangefochtene Theorie. Vor kurzem haben Forscher jedoch begonnen, sie empirisch zu überprüfen. Innerhalb kurzer Zeit ist eine inzwischen beachtliche Zahl von Evaluationsstudien entstanden – mit einem robusten und durchaus überraschenden Ergebnis: Es sind so gut wie keine Einspareffekte bei früheren Gebietsreformen nachweisbar. Wenig deutet auch darauf hin, dass sich die Leistungsqualität oder Effizienz verbessert haben, Schuldenstand, Wirtschaftswachstum oder Steuereinnahmen veränderten sich nach Fusionen nicht. Evaluiert wurden Gebietsreformen in unterschiedlichen Ländern, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit Gemeinden höchst unterschiedlicher Größenstruktur und großen Unterschieden im Aufgabenbestand. Doch ob Dänemark, Niederlande, Finnland, Deutschland, oder Schweiz – das Ergebnis war stets nahezu das Gleiche. Plump ausgedrückt: Bei Gebietsreformen werden mit viel Aufwand Schreibtische zusammengerückt. Ein Mehrwert ergibt sich hieraus allerdings nicht.
Regionale Unwuchten verstärken sich
Gebietsreformen verbessern also nicht unbedingt die Ausstattung mit öffentlichen Ressourcen. Ihre räumliche Verteilung ändert sich jedoch substanziell. In eingemeindeten Orten werden Rathäuser und Gemeindeämter geschlossen, Mitarbeiter ziehen in den neuen Hauptort oder müssen pendeln. Der Verlust des Verwaltungssitzes kostet nachweislich Einwohner und Kaufkraft. Studien können inzwischen zeigen, dass Gebietsreformen das Gefälle zwischen ohnehin prosperierenden städtischen Kerngebieten und dem Umland verstärken können. Diese Umverteilungseffekte von Gebietsreformen spielten in der Wissenschaft aber auch in der öffentlichen Debatte bisher eine eher untergeordnete Rolle. In Zeiten zunehmender Verstädterung sollten sie jedoch verstärkt in den Blick genommen werden; Gebietsreformen können die Landflucht noch zusätzlich befeuern.
Bürger werden unzufriedener
Die Hauptsorge bei Gebietsreformen ist jedoch der Verlust an Bürgernähe. Nicht nur räumlich nehmen die Distanzen zu, der „Draht“ zwischen Lokalpolitik und Bürgerschaft wird bereits rechnerisch länger. Die steirische Gemeindestrukturreform von 2015 ist ein anschauliches Beispiel: Vor der Reform gab es noch über 8.000 gewählte Bürgermeister und Gemeinderäte in den steirischen Gemeinden. Nach den Fusionen sind es nur noch rund 5.300 Mandatsträger. Durch die Gemeindefusionen reduzierte sich also die Zahl der lokalen Ansprechpartner um rund ein Drittel, während die Zahl der Probleme und Bürgeranliegen wohl kaum geringer geworden sein dürfte.
Die sinkende Zahl von Gemeinderäten und Bürgermeistern rüttelt auch an der Verankerung der Demokratie in der Bevölkerung. In Ostdeutschland sank die Zahl der ehrenamtlichen Kommunalpolitiker zwischen 1990 und 2017 noch drastischer von 120.000 auf 37.000. Der Hauptgrund auch hier: Gebietsreformen. In einigen deutschen Gemeinden hat der Gemeinderat inzwischen weniger Sitze als die Gemeinde Ortsteile. Etliche Bürger sehen in anonymen Großgemeinden ihre Interessen zunehmend weniger bis gar nicht mehr vertreten. Es entsteht der Eindruck von der Politik „vergessen“ worden zu sein. Studien aus zahlreichen europäischen Ländern zeigen, dass Gebietsreformen zu einer niedrigeren Wahlbeteiligung bei Gemeinderatswahlen führen. Das Vertrauen und das Interesse an der Lokalpolitik schwinden. Gebietsreformen sind keine allein technische Verwaltungsangelegenheit – sie berühren auch die Fundamente der Demokratie.
Fazit
Mit Blick auf aktuelle Evaluationsstudien kann man die Kosten-Nutzen-Bilanz groß angelegter Gebietsreformen als bestenfalls gemischt bezeichnen. Größere Verwaltungseinheiten bedeuten keineswegs automatisch niedrigere Ausgaben oder eine höhere Effizienz. Gebietsreformen haben aber nachweisbar unliebsame regionalwirtschaftliche und politische Nebenwirkungen. Diese Ergebnisse mahnen zur Zurückhaltung bei der Schaffung (zu) großräumiger Gebiets- und Verwaltungsstrukturen.
Natürlich gibt es in Einzelfällen gute Gründe für freiwillige Gemeindezusammenschlüsse. Das gilt vor allem, wenn die Siedlungsgebiete zweier Orte über die Zeit natürlich zusammengewachsen und hieraus eine gemeinsame Identität entstanden ist. Im Allgemeinen sollten aber weniger eingriffsintensive Alternativen Gebietsreformen vorgezogen werden. Die Potenziale von interkommunaler Zusammenarbeit, Aufgabenneuzuordnungen zwischen den staatlichen Ebenen oder Instrumenten der Verwaltungsmodernisierung (z. B. Leistungsvergleiche bzw. „Benchmarks“) werden häufig noch nicht ansatzweise ausgeschöpft.
Veröffentlichung
Blesse, Sebastian und Rösel, Felix (2017): Was bringen kommunale Gebietsreformen? Kausale Evidenz zu Hoffnungen, Risiken und alternativen Instrumenten, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 18 (4), S. 307–324 (https://doi.org/10.1515/pwp-2017-0050).
Informationen
Sebastian Blesse studierte in Göttingen und Antwerpen. Seit Juni 2015 arbeitet Sebastian Blesse am ZEW Mannheim im Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft". Seine Forschungsinteressen liegen in der Finanzwissenschaft, Politische Ökonomie und angewandte Ökonometrie.
E-Mail: blesse@zew.de
Dr. Felix Rösel studierte in Erfurt und Dresden und arbeitet an der Dresdner Niederlassung des ifo Instituts als Post-Doc. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Politische Ökonomie, Öffentliche Finanzen und Gesundheitsökonomie, einen wesentlichen Schwerpunkt bildet hierbei die Erforschung des Rechtspopulismus.
E-Mail: roesel@ifo.de
Informationen zu Sebastian Blesse

blesse@zew.de
Zur Übersicht