2021: Eine Chance für Bosnien und Herzegowina?

von Jens Woelk, 08.01.2021

1. Bosnien und Herzegowina im Sumpf der Dauertransition

25 Jahre nach Kriegsende und dem Friedensabkommen von Dayton (DPA) scheint Bosnien und Herzegowina (BiH) durch einen internen Kalten Krieg gelähmt. Als Mittel zur Beendigung des Krieges und für den Beginn einer Transition, setzte das Dayton-Abkommen vor allem auf starke Garantien für die Gruppen, um die Situation zu stabilisieren. Diese Waffenstillstandslogik entpuppte sich das als Hindernis auf dem Weg zur europäischen Integration: Im Namen der Stabilität dominiert das Status-quo-Denken die Politik und die Institutionen ("Stabilitokratie") und blockiert eine dynamische Entwicklung und Anpassung.

Bereits 10 Jahre nach dem Krieg, im Jahr 2005, kritisierte die Venedig-Kommission des Europarates nach einer gründlichen Analyse die verfassungsrechtliche Situation des Landes mit scharfen Worten und listete die Probleme einzeln auf. Ein von den USA gesponserter Versuch, die Verfassung 2006 zu ändern ("April-Paket"), scheiterte an nur zwei Stimmen in der parlamentarischen Versammlung. Versuche, Vereinbarungen zwischen den Parteiführern hinter verschlossenen Türen zu vermitteln, folgten 2008 und 2009 und scheiterten. Das Thema "Verfassungsreform" wurde von der Internationalen Gemeinschaft aufgegeben. Parallel dazu reduzierte sie ihre Präsenz im Land sowie ihr aktives Engagement stark. Die Transition in BiH trat ohne Verfassungsreform in eine neue Phase ein.

Von Dayton nach Brüssel: Das internationale Semiprotektorat und die Ersetzungsbefugnisse des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft ("Bonn Powers") sollten durch lokale Eigenverantwortung ("local ownership") in Verbindung mit der Attraktivität eines zukünftigen EU-Beitritts als Pull-Faktor ersetzt werden. Nach der Stabilisierungsphase unter direkter Leitung der internationalen Gemeinschaft erschien dies als notwendiger und logischer nächster Schritt in der Nachkriegstransition. Doch die Voraussetzungen für "Ownership" auf der Basis demokratischer Legitimität und Verantwortung fehlten völlig: Es gab weder eine Entspannung der an den Kalten Krieg erinnernden Beziehungen innerhalb des Landes, noch (irgendwelche Anzeichen von) Versöhnung. Ohne einen übergreifenden Konsens über die Zukunft des Landes war daher keine Perestroijka zu erwarten.

Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg im Dezember 2009 bescheinigte, dass die Verfassung des Landes die politischen Rechte derjenigen Bürger verletzt, die nicht einem der drei konstituierenden Völker angehören (Fall Sejdic-Finci); weitere Urteile folgten (Zornic 2014, Pilav, 2016, und jüngst Pudaric 2020), bis heute ist keines davon umgesetzt. Bosnien und Herzegowina beantragte trotzdem die Mitgliedschaft in der EU. Die Stellungnahme der Europäischen Kommission zum Beitrittsantrag des Landes, ein Dokument mit konkreten Hinweisen und klaren Prioritäten für den Weg zum EU-Beitritt, das im Mai 2019 veröffentlicht wurde, bezieht sich ausdrücklich auch auf Fragen, die eine Verfassungsänderung erfordern. Damit ist offiziell klar, dass der EU-Beitritt nicht ohne Änderungen der Dayton-Verfassung erfolgen wird. Somit ist die Verfassungsreform nach einem Jahrzehnt des Schweigens wieder ein Thema geworden.

Aber wie kann das Land seine verfassungsrechtlichen Strukturen reformieren, um den gegenwärtigen Stillstand zu überwinden? Wie können die in den letzten 15 Jahren von den nationalistischen Eliten unter Ausnutzung des Dayton-Rahmens und des Rückzugs der Internationalen Gemeinschaft errichteten und gefestigten Strukturen reformiert werden?

2. (Wie) Kann die Dayton-Verfassung geändert werden?

Die Dayton-Verfassung ist nun seit 25 Jahren in Kraft, also bereits seit einer Generation. Es stimmt, dass sie in Dayton ausgehandelt wurde, in englischer Sprache, und als wesentlicher Teil des Friedenskompromisses aufgezwungen wurde, anstatt in Bosnien und Herzegowina ausgearbeitet und von der Bevölkerung angenommen zu werden. Aber ihre kontinuierliche Anwendung über 25 Jahre hinweg kann selbst als eine Quelle der Legitimität betrachtet werden. Und selbst schlechte Verfassungen (können) funktionieren, wenn der politische Wille vorhanden ist, sie zu verwirklichen.

Dayton ist nicht in Stein gemeißelt. Die Verfassung wurde bereits formell geändert, um das Schiedsverfahren bezüglich des Distrikts Brcko aufzunehmen (2009). Erstaunlicherweise ist dies bisher die einzige Änderung geblieben. Denn die Verfassung kann relativ einfach geändert werden: Das Änderungsverfahren erfordert nur einen Beschluss der Parlamentarischen Versammlung, mit einer Zweidrittelmehrheit im Repräsentantenhaus (Artikel X). Dieses einfache Verfahren sollte Änderungen erleichtern und kann daher als Indiz für den Übergangscharakter der Verfassung angesehen werden. Diese war als Grundlage für eine Konsolidierungsphase gedacht und sollte in ihrer ursprünglichen Form nicht lange Bestand haben. Aber ihre Anpassung hängt vom politischen Willen ab, sich auf Änderungen zu einigen, die den gemeinsamen Nenner von Staat und Gesellschaft betreffen. Und die dominanten politischen Akteure wollen keine Veränderungen oder treten für Veränderungen ein, die das gegenwärtige ethno-autoritäre System weiter verfestigen würden, wie z.B. die bosnisch-kroatische Partei HDZ, die eine weitere Aufteilung nach ethnischen Kriterien fordert, insbesondere eine dritte Entität mit kroatischer Mehrheit.

Auch Verfassungswandel durch Interpretation hat bereits stattgefunden, insbesondere durch das Verfassungsgericht mit einigen wichtigen Klarstellungen zum Charakter des Verfassungssystems und seiner grundlegenden Elemente (z.B. das Urteil über die 'konstituierenden Völker', U-5/98-III, 2000). In der Tat kann kaum ein juristisches Dokument wörtlich angewendet werden, Auslegung ist immer notwendig. Eine Verfassung umfasst viele Rechte und Prinzipien, die im Widerspruch zueinander stehen können und daher im Einzelfall interpretiert, abgewogen und angepasst werden müssen.

Klärung durch Auslegung war auch deswegen häufig notwendig, da das Friedensabkommen von Dayton ein - bewusst - mehrdeutiger, diplomatischer Text ist. Es ließ tatsächlich widersprüchliche Auffassungen über die territoriale Organisation des Staates zu: Während einige Bestimmungen darauf hindeuten, dass die Entitäten "ethnische Vaterländer" sind, verweisen andere auf den multinationalen Charakter des gesamten Landes, und zwar auf allen Ebenen. Dasselbe gilt für die Rechte von Individuen und Gruppen ("konstituierende Völker"), die beide garantiert werden.

Aber in einigen Fällen der Frontalkollision ist eine nachhaltige Interpretation dieser widersprüchlichen Regelungen unmöglich. Bisher haben die Verfassungsgerichte (auf Staats- und Entitätsebene) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte versucht, diese Kollisionen auf dem Rechtsweg zu lösen. Aber ihre Urteile wurden nicht umgesetzt, da dies eine Gesetzes- oder sogar Verfassungsänderung erfordern würde. Eine solche Änderung ist, wie oben gesehen, zwar möglich, erfordert aber politischen Willen und Zustimmung; aber den wichtigsten politischen Akteuren fehlt ein übereinstimmendes oder wenigstens kompatibles Verständnis des gemeinsames Staates und seiner Organisation. Eine politische Kultur, die weder Vertrauen entwickelt hat noch Kompromisse schätzt, ist ein großes Hindernis für den Respekt des anderen und die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven. Stattdessen ist die politische und mediale Situation des Landes geprägt von ständiger Wahlkampfrhetorik und ethno-nationalistischen Politikern, die leere Versprechungen wiederholen oder Drohungen aussprechen, anstatt sich mit konkreten Problemen auseinanderzusetzen und diese zu lösen. Der institutionelle Kontext begünstigt ein solches Verhalten, insbesondere durch den permanenten Wettbewerb der politischen Parteien aufgrund der alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen und mit zahlreichen Vetospielern und Positionen. Die Garantien der institutionellen Vertretung aller Gruppen dient daher vor allem Partikularinteressen statt Kooperation für das Gemeinwohl. Dies führt zu Spaltung, Kontrolle und Klientelismus und wird effektiv als "state capture" beschrieben.

Es ist offensichtlich, dass diejenigen, die von einem solchen System profitieren, kein Interesse an Veränderung haben. Das erklärt auch die paradoxe Situation, dass dieselben Leute, die beklagen unter einer aufgezwungenen Verfassung zu leben, diese gegen jegliche Reformversuche verteidigen.

3. Was muss geändert werden?

Es besteht kein Zweifel daran, welche Inhalte geändert werden müssen. Eine detaillierte Analyse und klare Hinweise hat die Venedig-Kommission bereits 2005 vorgelegt, also vor 15 Jahren! Die EGMR-Urteile folgten. Einige der 14 "Schlüsselprioritäten" in der Stellungnahme der EG-Kommission (Mai 2019) erfordern ebenfalls eine Verfassungsänderung.

Jede Verfassungsreform muss vor allem die verwirrende Verbindung zwischen dem ethnischen Prinzip in den Institutionen (Power Sharing) und den Elementen des ethnischen Föderalismus entwirren. Dies gilt selbst für eine minimale Umsetzung der Sejdic-Finci-Rechtsprechung. Es müssen nicht weniger als die Grundlagen des multinationalen Systems von Bosnien und Herzegowina identifiziert werden. Alle Optionen zur Umsetzung der Urteile müssen auf einer Differenzierung von territorialer und ethnischer Repräsentation beruhen. Es bedarf einer Unterscheidung (und Trennung) zwischen territorialen Interessen, die durch territoriale Einheiten ausgedrückt werden, und der Garantie von Gruppenrechten und kollektiven Identitäten. Während sich erstere auf die gesamte Bevölkerung und die Rechte aller Bürger beziehen, sollen Gruppeninteressen als Ausdruck der Achtung der Vielfalt durch Vertretung, Mitsprache- oder Vetorechte in spezifischen Fragen geschützt werden, die für eine bestimmte Gruppe innerhalb der Bevölkerung besonders relevant sind.

Im Gegensatz dazu spiegelt das gegenwärtige Arrangement die Identifikation von (Teilen eines) Territoriums mit einer dominanten Gruppe wider, entsprechend dem Schema des ethnischen Föderalismus in Jugoslawien. Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass Gebietsinteressen mit denen der jeweils dominanten Gruppe in einem bestimmten Gebiet identisch sind (z.B. Serben in der RS, Kroaten in einigen Teilen der Föderation und Bosniaken in anderen). Die jeweiligen Unklarheiten im DPA werden in der Praxis durch das System der ethnisch getrennten politischen Parteien und Medien verstärkt. Im Gegensatz zu den meisten anderen föderalen Systemen verstärkt der Föderalismus in Bosnien und Herzegowina daher nicht die demokratische Partizipation aller Bürger, sondern dient vor allem ethnischen Interessen.

Ein zweites wesentliches Thema betrifft die Gleichgewichte zwischen individuellen und Gruppenrechten. Dies ist keine Frage des "entweder ... oder", da die kollektive Dimension in Bosnien und Herzegowina historisch sicherlich wichtig war (nicht nur wegen des Krieges, sondern auch in der Vergangenheit, vom Milletsystem des Osmanischen Reiches bis zum multinationalen Jugoslawien) und auch heute noch wichtig ist. Aber die gegenwärtige Dominanz der ethnischen und kollektiven Vertretung muss mit der Garantie der individuellen Rechte der Bürger ausgeglichen werden. Dies ist die Verpflichtung, die sich aus dem Fall Sejdic-Finci in Bezug auf die "Anderen" ergibt, aber eine Korrektur ist auch für jene Angehörigen der konstituierenden Völker notwendig, die aufgrund ihres Wohnsitzes von ihren politischen Rechten ausgeschlossen werden oder in diesen eingeschränkt sind (Fall Zornic). Der Vorrang der Individualrechte ist verfassungsrechtlich verankert: Artikel II.2 sieht die unmittelbare Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Protokolle vor, die "Vorrang vor jedem anderen Recht" haben. Gewisse Grundrechtseinschränkungen sind zwar generell und insbesondere nach einem Konflikt möglich, unterliegen aber einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese soll gewährleisten, dass nur die am wenigsten restriktiven Maßnahmen angewendet werden und nur so lange wie nötig. Dies ist genau die Argumentationslinie des EGMR in der Sejdic-Finci-Entscheidung: ein System, das zur Beendigung eines Krieges notwendig war, ist mehr als ein Jahrzehnt danach nicht in gleicher Weise gerechtfertigt. Heutzutage, 25 Jahre nach dem Ende des Konflikts, muss daher die Logik des Systems geändert werden. Individuelle Rechte sind die Regel und die Garantie von Gruppenmerkmalen die Ausnahme, die besonders begründet werden muss.

Effiziente territoriale Governance ist ein dritter wichtiger Punkt. In einem Land mit weniger als 3,5 Millionen Einwohnern wäre jede Verringerung der institutionellen Komplexität ein großer Gewinn für das demokratische System (Klarheit in der Entscheidungsfindung und politische Verantwortung) und ein Ersparnis von Ressourcen. Idealerweise sollte eine Anzahl von Regionen auf subnationaler Ebene nach historischen, wirtschaftlichen und geographischen Kriterien gebildet werden, um eine dezentrale wirtschaftliche Entwicklung zu begünstigen, nach dem Beispiel der italienischen Regionen 1948 und der deutschen Bundesländer 1949, die in den folgenden Jahrzehnten ihre eigene politische Identität als subnationale, politische Gemeinschaften entwickelten. Die derzeitige Struktur mit zwei bereits existierenden, oft antagonistisch agierenden Entitäten könnte jedoch nur durch eine Totalrevision der Dayton-Verfassung verändert werden. Dies ist jedoch politisch nicht machbar. Eine Reform der Föderation bietet erhebliche Chancen für Verbesserungen, wenn zumindest die Zahl der Kantone reduziert und diese in eine effiziente Zwischenebene der territorialen Verwaltung mit wirtschaftlichen und planerischen Funktionen umgewandelt werden könnten. Obwohl solche Vorschläge in der Vergangenheit ausgiebig diskutiert wurden, sind sie regelmäßig abgelehnt worden. In jedem Fall ist die Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften auf allen Regierungsebenen der Schlüssel für eine effizientere territoriale Governance und muss daher gestärkt werden.

Insgesamt sind also die Beziehungen zwischen Gebietsregierung und -verwaltung, den konstituierenden Völkern und den einzelnen Bürgern zu korrigieren. Territoriale und staatsbürgerliche Elemente müssen gestärkt und Gruppenrechte präzise an Bereiche mit spezifischen kollektiven Interessen gebunden werden. Einige Anpassungen des derzeitigen föderalen Rahmens sind ebenfalls notwendig, wenn Föderalismus in Bosnien und Herzegowina tatsächlich wie ein gegliedertes Gesamtsystem funktionieren und alle drei Zwecke garantieren soll, die föderalen Systemen gemein sind: die integrative Funktion ("self rule and shared rule"), die "vertikale" Trennung und Begrenzung der Macht sowie mehr Partizipation für die Bürger. Grundlage eines jeden föderalen Paktes wird in Bosnien und Herzegowina eine multinationale Verfassungsordnung sein, die Vielfalt als Regel garantiert, aber nicht zum Nachteil der individuellen Rechte und Freiheiten.

Schließlich sollte eine Klausel, welche die internationale und europäische Integration des Landes zu einem Staatsziel erklärt, die Offenheit der Verfassungsordnung und ihre Orientierung nach außen und Interaktion zum Ausdruck bringen. Bosnien und Herzegowina war im Laufe seiner Geschichte immer eine erkennbare territoriale Einheit, aber gleichzeitig auch Teil eines größeren Systems. Verfassungsbestimmungen über die (mögliche) Übertragung von Souveränitätsrechten an internationale und europäische Organisationen sind inzwischen in den meisten Verfassungen zu finden. Die Verabschiedung einer solchen Integrationsklausel würde die Bereitschaft und den Willen der institutionellen Akteure und der Bürger Bosniens beweisen, den Beitrittsprozess (und später die EU-Mitgliedschaft) auf eine sichere verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen. Die Klausel sollte auch technische Fragen enthalten wie die Anpassung der Institutionen und Verfahren zur Gewährleistung der Beteiligung am Entscheidungsprozess sowie die rechtzeitige und gründliche Umsetzung des EU-Rechts durch die Koordination und Zusammenarbeit aller Regierungsebenen.

4. Bürgerbeteiligung und internationale Koordination für eine nachhaltige Reform

Eine Verfassungsreform muss in den Institutionen und durch die Verfahren zur Verfassungsänderung stattfinden. Jeder offene Veränderungsprozess sollte jedoch die Zivilgesellschaft einbeziehen, um die Information und Beteiligung der Bürger zu gewährleisten und damit die Grundlage für Nachhaltigkeit zu schaffen. Zwar brauchen nachhaltige Reformen Zeit, aber ein Anfang sollte bald gemacht werden, um das Jahrzehnt der unsicheren Transition zu beenden.

Ein zeitlich gestufter, inhaltlich differenzierter Prozess kann helfen, Dynamik für Verfassungsreformen zu schaffen: Die Elemente der Reformen sollten auf verschiedenen Ebenen, mit verschiedenen Akteuren und in verschiedenen Foren diskutiert werden. Deliberative Prozesse und partizipative Demokratie zur Vorbereitung von Verfassungsänderungen werden derzeit in immer mehr Ländern praktiziert. Die Deliberation soll verschiedenen Stimmen Gehör verschaffen, Qualität und Nachhaltigkeit garantieren, während eine breitere Beteiligung dem Prozess Legitimität verleiht und so die finale Phase der Entscheidungsfindung in der Parlamentarischen Versammlung vorbereitet, mit klaren Ansagen der Bürger zu Umfang und Grundfragen der Reform.

Mit Blick auf den derzeitigen Stillstand mag dies wie Science-Fiction klingen, aber eine Initiative mit Versammlungen per Los ausgewählter Bürgern aus verschiedenen Teilen des Landes verspricht eine Dynamik und Perspektiven zu den anstehenden Fragen, die sich von denen der in den Institutionen vertretenen politischen Akteure unterscheiden. Auch in Irland wäre ohne solche Diskussionen und klare Ergebnisse in Bürgerversammlungen kaum das Abtreibungsverbot aus der Verfassung gestrichen worden.

Die Europäische Union und der Europarat (und andere Akteure der internationalen Gemeinschaft) müssen diesen Prozess unterstützen, indem sie fachliche Beratung und Leitlinien für die Reform bereitstellen. Die Versäumnisse von vor einem Jahrzehnt, für die die internationale Gemeinschaft zumindest mitverantwortlich ist, können und müssen nachgeholt werden. Die Unterstützung einer Reformdebatte und später eines Reformprozesses würde deutlich zur Glaubwürdigkeit der EU beitragen. Zur Zeit fordert die EU nämlich von Bosnien und Herzegowina Dinge, die das Land nicht erfüllen kann.

Grundlegend für jede Reform ist die Koordination mit und die Unterstützung durch die USA. 2021 bietet dafür eine echte Chance, wenn die neue US-Administration bereit ist, sich für eine Verfassungsreform einzusetzen.

Auf diese Weise könnte die Verfassungsreform tatsächlich das Ende der Transition markieren und die Umgestaltung eines Systems, das Bosnien in Dayton von der Internationalen Gemeinschaft und seinen Nachbarn auferlegt wurde, zu einem nachhaltigen multinationalen Staat. Die Wahl besteht also zwischen der Garantie einer weiteren Konsolidierung des Status quo (mit dem großen Risiko eines plötzlichen Endes der gegenwärtigen Scheinstabilität) und dem Versuch einer Reform des Systems. Am Ende entspricht dies der von Joe Biden in Bezug auf die USA ausgedrückte Wahl zwischen "mehr geteilt..., oder zu reformieren und zu vereinen".

Zur Vertiefung:

Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission), "Opinion on the constitutional situation in Bosnia and Herzegovina and the powers of the High Representative", Venedig, 11. März 2005 (https://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-AD(2005)004-e)

EG-Kommission, Stellungnahme der Kommission zum Antrag von Bosnien und Herzegowina auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union, Brüssel, 29. Mai 2019, KOM(2019) 261 endgültig (https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20190529-bosnia-and-herzegovina-opinion.pdf).

Italienische Botschaft Sarajewo, "Twenty-five years later: The Dayton Agreement and the European pathway of Bosnia and Herzegovina", Tagung am 18. Dezember 2020. Aufzeichnung: (https://ambsarajevo.esteri.it/ambasciata_sarajevo/it/ambasciata/news/dall-ambasciata/venticinque-anni-dopo-accordi-di.html)

 

 

 

Jens Woelk ist Professor für Vergleichendes Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät und der School of International Studies der Universität Trient sowie ehemaliger Vizedirektor des Instituts für Vergleichende Föderalismusstudien bei Eurac Research Bozen. 2018 und 2019 arbeitete er in Sarajevo als Rechtsberater der Europäischen Union beim Hohen Rat für Justiz und Staatsanwaltschaft von Bosnien und Herzegowina.

 

 

 

Informationen zu Jens Woelk



Jens WoelkAssociate Professor, School of International Studies und Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Trient


jens.woelk@unitn.it

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