Die Entwicklung der Gemeinden in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino
von Alice Engl, 29.08.2016Im Europäischen Mehrebenensystem steht die kommunale Ebene vor immer größeren Herausforderungen. Die zunehmende Komprimierung von Raum und Zeit mittels neuer Technologien sowie die notwendige Rückbesinnung auf das Wesentliche zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit erfordern ein Umdenken in der Gemeindepolitik und eine Umgestaltung von Gemeindestrukturen. So müssen sich derzeit Gemeinden weitgehend neu aufstellen hinsichtlich ihrer Aufbau- und Ablauforganisation, der Art und des Umfangs ihrer Funktionen, ihrer Leistungsfähigkeit und damit verbunden auch hinsichtlich ihres territorialen Zuschnittes. Die Aufgaben und Problemstellungen, die eine Gemeinde bewältigen muss, sind vielfältig und universeller Natur. Als die dem Bürger und der Bürgerin am nahesten stehende Gebietskörperschaft ist die Gemeinde sowohl kundennahe Dienstleistungseinrichtung als auch Akteur in intergouvernementalen Beziehungen. Sie muss über die nötigen Strukturen und Ressourcen verfügen, um bei der Bewältigung ihres Aufgabenportfolios sowohl Effizienz als auch lokale Identitätsausgestaltung optimal zu verbinden.
Drei Bereichen gilt besondere Aufmerksamkeit: den institutionellen Rahmenbedingungen, den Wahlen und der politischen Partizipation, und der Finanzierung, Kooperation und interkommunalen Zusammenarbeit bzw. der Fusion von Gemeinden. Denn die kommunale Ebene scheint – nicht nur aber insbesondere – in Krisenzeiten der Ort zu sein, an dem institutionelle Innovation und Instrumente für ein neues Politikverständnis im subsidiären Sinne am leichtesten erprobt und umgesetzt werden können. Dies gilt auch für die Gemeinden der drei Mitgliedsländer der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino: das Bundesland Tirol und die zwei autonomen Provinzen Bozen und Trento.
Institutionelle Rahmenbedingungen: Bei rund 510.000 Einwohnern weist Südtirol 116 Gemeinden auf, in Tirol sind es bei knapp 730.000 Einwohnern 279 Gemeinden, im Trentino mit knapp 540.000 Einwohnern 178 Gemeinden. Auffällig ist, dass trotz der unterschiedlichen staatlichen Zugehörigkeit die Ausgangslage der gesetzlichen Regelungen der Gemeinden relativ ähnlich ist. Ähnlichkeiten zeigen sich etwa bei den Regelungen über den Bestand der Gemeinden, was ihre Organe oder ihre Finanzierung anbelangt, betrifft aber auch deren Aufgaben und Zuständigkeiten. Die Gemeinden nehmen auch immer mehr Aufgaben vom Land und vom Bund sowie von der Region und den beiden Autonomen Provinzen wahr.
Die Gemeinden weisen mit ihren Gemeindeverbänden eine jeweils eigene Interessensvertretung auf, wobei in Südtirol und im Trentino die Gemeinden verpflichtend über den Rat der Gemeinden bzw. der Lokalautonomien in die Entscheidungsprozesse auf Landesebene mit einbezogen sind. Dies gibt den Gemeinden Südtirols und des Trentino gegenüber jenen Tirols einen institutionellen Vorsprung und eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber der Landespolitik.
Wahlen und politische Partizipation: Was die Gemeindedemokratie betrifft, sind die Gemeinden in den drei Ländern durch ähnliche Rahmenbedingungen geregelt. In allen drei Ländern wird nach dem Verhältniswahlsystem gewählt, die Bürgermeister werden direkt gewählt, je nach Größe in einer eventuellen Stichwahl. Unterschiedlich ist die junge Tradition der Vorwahlen, die es in Tirol nicht gibt. In allen drei Ländern ist bei den letzten Gemeinderatswahlen die Wahlbeteiligung zurückgegangen. In allen drei Ländern ist es in den letzten Jahren zu einem Anstieg des politischen Wettbewerbs gekommen. Die ÖVP in Tirol, die SVP in Südtirol bilden trotz elektoraler Erosionsprozesse nach wie vor die „Bürgermeisterparteien“, im Trentino ist dies bereits viel durchwachsener.
Nach wie vor sind in allen drei Ländern die Frauen sowohl in den Gemeinderäten als auch im Bürgermeisteramt unterrepräsentiert. Eine ausgeprägtere Kultur der direkten Demokratie finden wir in den Gemeinden des Trentino und Südtirols, weniger in jenen Tirols.
Politische Teilhabe auf kommunaler Ebene für Bürger und Bürgerinnen ohne italienische bzw. ohne österreichische Staatsbürgerschaft ist zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern abgestuft. Insgesamt aber hätten die Gemeinden in allen drei Ländern noch weitreichendere Potentiale bei der Förderung von Partizipation und Integration ausländischer Staatsbürger.
Finanzierung, Kooperation und Fusion: Die Gemeinden in der Europaregion stehen wie in ganz Europa in einer angespannten wirtschaftlichen Situation, die ihren Handlungsspielraum immer mehr einschränken. Deshalb wird in allen drei Ländern in den letzten Jahren an neuen Finanzierungsformen der Gemeinden gearbeitet. Studien belegen, dass sich die Gesamteinnahmen und –ausgaben je Einwohner der Gemeinden in Tirol und in Südtirol in der Vergangenheit auf einem vergleichbaren Niveau befunden haben, wenngleich die Investitionen in Südtirol viel höher sind als in Tirol. Seit 2011 arbeitet Südtirol an einem neuen Gemeindefinanzierungssystem.
In dieselbe Richtung der Neuordnung der Gemeindenfinanzierung bewegt sich auch die Provinz Trient. Um das Problem der immer größer werdenden Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben zu meistern, wird im Trentino aber zusätzlich auf die (erfolgreiche) Fusion von Gemeinden gesetzt, während in Tirol und in Südtirol dies kein Thema ist. Alle drei Länder forcieren dafür die übergemeindliche Kooperation.
Reformen und neue Lösungsansätze in der Politikgestaltung: Als Fazit lässt sich behaupten, dass die Gemeinden der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino mit ähnlich schwierigen institutionellen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen konfrontiert sind und teilweise ähnliche und auch gemeinsame Strategien für die Politikgestaltung entwickeln. Gemeinsam ist allen, dass sie sich in kontextgebundenen Spannungsfeldern bewegen, die geprägt sind durch ein unterschiedliches Ausmaß und Wechselspiel ihrer Wesenselemente: Autonomie und Abhängigkeit, freiwillige und erzwungene Zusammenarbeit, Koordination und Wettbewerb.
Alice Engl/Günther Pallaver/Elisabeth Alber (Hg): Politika 16. Die Gemeinden der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, Bozen, Edition Raetia 2016, 370 Seiten, Euro 24,40
Informationen zu Alice Engl
Dr. Alice Engl forscht am Institut für Minderheitenrecht der Europäischen Akademie Bozen mit Schwerpunkt Minderheitenrechte und Europäische Integration. Foto: EURAC
Alice.Engl@eurac.edu
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