Direkte Demokratie: Die Menschen früher und besser informieren

von Tamara Ehs und Hannes Leo, 02.06.2015

Das österreichische Parlament diskutiert derzeit eine Demokratiereform. Trotz einiger Bemühungen – wie etwa durch die Verlosung von Rederechten an acht Bürgerinnen und Bürger sowie die Installation einer von jeder und jedem bespielbaren Twitterwall im Sitzungssaal – findet diese Ideensammlung von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt statt. Dabei hat gerade jener Mangel an Dialog zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten den Ruf nach mehr Demokratie und damit nach einer Reform des bestehenden Systems in den vergangenen Jahren erst laut werden lassen. Während demnach in Wien sechs Parteien mit Experten und acht Bürgern über die Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie beraten und mit stetem Blick auf die Schweiz das „beste Modell“ suchen, wird verabsäumt, Räume zu schaffen, in denen neuen Formen des demokratischen Dialogs von den Bürgern selbst erprobt werden können. Denn wir benötigen nicht nur eine punktuelle Diskussion über die Demokratie und ihre Weiterentwicklung sondern eine ständige, eine Infrastruktur auf Dauer.

Das Ziel kann nur eine dialogorientierte Demokratie sein, in der die Bürger in weitaus größerem Ausmaß als bisher an der Gesetzgebung mitwirken können. Es gilt, einen Prozess der Verwirklichung von Bürgerbeteiligung anzustoßen, der nicht von Anfang an perfekt sein muss, in dem aber die näheren Bestimmungen des Zukünftigen bereits in der Gegenwart experimentierend hervorgebracht werden. Hierin läge das Transformationspotential, auf partizipatorischem Wege neue Formen der Demokratie selbst zu gestalten

Immerhin äußert sich politische Beteiligung heute vermehrt projektbezogen und punktuell in Bürgerinitiativen und Grätzelbewegungen, weniger als lebenslange Parteienbindung.The party is over, meint der Politikwissenschafter John Holloway zweideutig. Deshalb sollte im Rahmen der aktuellen Demokratiereform überlegt werden, wie man diese Demokratisierungsprozesse, die sich eben nicht mehr im Parteiensystem verorten, unterstützt, wie man den Gesetzgebungsprozess transparenter, demokratischer und partizipativer gestaltet. Denn die Forderungen nach mehr und vor allem direkter Demokratie beinhalten nicht den Wunsch nach einer bloßen Abstimmungsdemokratie, sondern zielen auf Dialog und Mitentscheidung ab. Nicht der Moment des Plebiszits steht im Vordergrund, sondern der Prozess der Gesetzwerdung.

Es geht in einer dialogorientierteren Demokratie um Möglichkeiten der Zusammenarbeit von gewählten Repräsentanten mit Bürgern, um die Responsivität der Politik, letztlich um die Selbstachtung, als Bürger gehört und ernst genommen zu werden. Finnland hat diesen dialogischen Weg bereits beschritten und im Parlament einen Zukunftsausschuss eingesetzt, der allein oder auch gemeinsam mit dem je nach Thema zuständigen Ministerium „Zukunftsforen“ und Bürgerkonferenzen in den Regionen organisiert. Hierbei setzt Finnland auf das sogenannte Crowdsourcing.

Crowdsourcing, die Einbindung von vielen Personen in Entscheidungsprozesse, ergibt sich aus den neuen Möglichkeiten, die das Internet bietet, um Diskussionen zu öffnen, und wird durch die Einsicht motiviert, dass Wissen stärker verteilt ist als jemals zuvor. Man weiß bei vielen Themen schlichtweg nicht mehr, wo die Probleme tatsächlich liegen, welche Vorschläge kontroversiell sind und wer Lösungen oder neue Ideen anbieten kann. Oft sind es die direkt Betroffenen, die die Probleme am besten kennen und daher auch einschätzen können, ob die vorgeschlagenen Lösungen helfen. Möglicherweise kommen wesentliche Beiträge aber aus Bereichen, wo man sie bislang nicht vermutet hätte.

Wenn es also darum geht, möglichst viel Wissen und Expertise in Entscheidungen einzubinden und sie dadurch zu verbessern, dann muss man die neuen technologischen Möglichkeiten aktiv nutzen, um den Kreis der Diskutanten  über die traditionellen „Entscheider“ (d.s. in Österreich die politischen Parteien, die Sozialpartner, vereinzelt NGOs und involvierte Experten) hinaus zu erweitern.

Eine Voraussetzung für Crowdsourcing und alle Arten von Bürgerbeteiligung ist die umfassende Bereitstellung von relevanter Information über Prozess und Thema. Zwar hat sich das Informationsangebot etwa von Seiten des österreichischen Parlaments in den letzten Jahren deutlich erhöht; größtenteils handelt es sich jedoch um nachträgliche Bekanntmachungen. Aufgrund der hohen Anzahl an sogenannten Regierungsvorlagen, also Gesetzen aus den Ministerien, werden sowohl die Abgeordneten der Regierungsparteien als auch jene der Opposition und erst recht die Bürgerinnen und Bürger in der Regel erst zu einem sehr späten Zeitpunkt in den österreichischen Gesetzgebungsprozess einbezogen. Erst in der Begutachtungsphase, wenn bereits die wesentlichen Festlegungen vorgenommen wurden, können sie sich einbringen und werden auch dann mit Informationen kurz gehalten. Dadurch wird ihre Einflussmöglichkeit über Gebühr beschränkt.

Unter diesen kaum vorhandenen Mitwirkungsmöglichkeiten und der spärlichen Informationsweitergabe leidet die Akzeptanz und Transparenz des derzeitigen politischen Systems massiv. Dabei könnten einige, leicht nachvollziehbare Maßnahmen helfen, die Situation umzukehren: Zum Beispiel könnten Vorhabensberichte der Bundesregierung die Öffentlichkeit schon früh über die geplanten Gesetzesvorhaben der kommenden Monate unterrichten; ebenso wäre ein Themenfahrplan für den Nationalrat sinnvoll, damit die anstehenden politischen Diskussionen absehbar sind. Weiters sollte für die Wissenschaft mehr Raum bei der Entscheidungsfindung geschaffen werden, beispielsweise durch einen Zukunftsausschuss nach finnischem Vorbild. Es bedarf generell einer breiten, offenen und informierten Diskussion von neuen Themen. Zuletzt sollten die bereits angesprochenen Online-Beteiligungsverfahren schon sehr früh in diesen Prozessen eingesetzt werden, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Expertise und Sicht der Dinge einbringen können.

Derlei Crowdsourcing findet in Österreich bereits in Vorarlberg im Rahmen der Bürgerräte statt; auch Salzburg hat 2014 einen ersten landesweiten Bürgerrat einberufen. Doch wie die Beispiele aus Finnland oder auch die isländische Verfassungsgebung im Jahr 2012 zeigen, können diese Verfahren der Bürgerbeteiligung auch im größeren Rahmen, auf nationaler Ebene angewandt werden. Hier sind vor allem die Bundesregierung und der Nationalrat zum Handeln aufgefordert.

Dieser Zugang bietet aber auch eine große Chance für eine generelle Neuorientierung des Bundesrats: Der österreichische Bundesrat könnte als zukunftsgerichteter Think tank agieren, der in den Bundesländern Zukunftsforen oder Bürgerräte organisiert und somit die Bürger früh in den Gesetzwerdungsprozess miteinbezieht. Immerhin haben zweite Kammern seit jeher nicht nur die Aufgabe der föderalen Repräsentation, sondern dienen vor allem als chambre de réflexion, als Kammer des Nachdenkens, der Vertiefung, des Denkprozesses – schlicht dessen, was wir heute als Think-tank bezeichnen würden. Der Bundesrat als zweite Kammer könnte in dieser Richtung reformiert werden, um bürgerschaftliche Partizipation zu organisieren und gleichzeitig den Parlamentarismus und die repräsentative Demokratie zu stärken. Er könnte gemeinsam mit der Parlamentsdirektion als ständiges Demokratie(reform)büro agieren, das zugleich Raum für Alternativen bietet, in dem neuen Formen der Demokratie durch die Bürger erprobt und weiterentwickelt werden können.

Erstabdruck: Tiroler Tageszeitung, Samstag, 30. Mai 2015

Informationen zu Tamara Ehs und Hannes Leo



Tamara Ehs und Hannes LeoTamara Ehs, Politikwissenschafterin in Salzburg und Wien, und Hannes Leo, Ökonom und Unternehmer in Wien, engagieren sich in Initiativen zur Demokratiereform.

tamara.ehs@univie.ac.at; leo@cbased.com

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