EU-Task Force Subsidiarität brachte überraschend erfolgversprechende Ansätze

von Johannes Maier, 03.08.2018

In regelmäßigen Abständen poppt das Thema Subsidiarität auf Europäischer Ebene an die Oberfläche. War es rund um den Amsterdamer Vertrag Ende der 1990 Jahre vor allem die klare Zuordnung von Kompetenzen und ein eigenständiges Klagerecht der Regionen, im Konvent zum EU-Verfassungsvertrag bis 2005 die Verankerung umfassender und systematischer Mitwirkungsrechte direkt und indirekt betroffener politischer Instanzen, so wurde es mit dem Lissaboner Vertrag etwas ruhig um die unterschiedlichst – politisch, juristisch, gesellschaftsgestaltend – interpretierte und angewandte ‚Subsidiarität‘.

Das Thema gewinnt offensichtlich mit der politisch beobachteten Zunahme von ‚Nationalismen‘, der fehlenden Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in wichtigen EU-Politiken wie der Asyl- und Migrationsfrage und mit dem EU-Bürokratismus und dem mit ihm gefühlten EU-Zentralismus an Brisanz. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker reagierte mit der Einrichtung der Task Force Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und „Weniger, aber effizienteres Handeln“ aktiv und richtig, um die öffentliche Debatte auf eine sachliche Ebene zu kanalisieren. Und das erfolgversprechende Zwischenergebnis mit dem im Juli 2018 präsentierten Bericht gibt den Entscheidungsträgern in der Kommission Recht

Auf der Basis des Lissabonner Vertrages entwickelte und vertiefte die Kommission ihre Instrumente und tarnte die genauere Prüfung und Begründung allgemein in der breiten Zielsetzung der „Besseren EU-Rechtssetzung“. Einer genauen Darlegung des Mehrwertes eines neuen oder ergänzten ‚EU-Gesetzes‘, dessen Relevanz für alle 28 Mitgliedstaaten und 250 Regionen und dem klaren Nachweis einer transnationalen Dimension stehen strikt angewendete ‚EU-Verfassungsprinzipien‘, wie das Prinzip der Einzelermächtigung (Rechtsgrundlage), das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnis-mäßigkeitsprinzip gemäß Art. 5 EUV nur im Wege. Sie sind die letzten Hindernisse für den „Motor der Europäischen Integration“ basierend auf dem Treibstoff der Jean-Monnet-Methode und der Dynamik der kleinen Schritte; wenn nur schon einmal eine gemeinsame Behörde geschaffen und eine Maßnahme gesetzt ist, werden in der neuen Gemeinschaft wohl immer weitere Maßnahmen zu entwickeln sein. Die „Kompetenzausübungsregeln“ gemäß Art. 5 EUV bilden die klaren Antipoden dazu. Wo und wenn das politische Interesse – oftmals genährt durch die Interessen einiger weniger Mitgliedstaaten – an einer neuen Maßnahme zu stark wird, fährt die Kommission in Einzelfällen über die ‚EU-Verfassungsprinzipien‘ hinweg, trotz ihres ausgeklügelten Instrumentariums, trotz ablehnender Stellungnahmen des unabhängig gestellten „Ausschusses für Regulierungskontrolle“, und trotz – und manchmal auch wegen – der bereits übertriebenen Partizipation von Stakeholdern mittels „Konsultationen“. Letzteres gibt der Kommission die Chance, frei Argumente für die Inanspruchnahme der „Regelungskompetenz“ auf EU-Ebene auszuwählen. Die gegenwärtige Kommission macht dies entgegen ihrem schon vom vorherigen Kommissionspräsidenten Barroso übernommenen Credo und Versprechen „groß in großen Dingen und klein in kleinen Dingen zu agieren“. Jüngste Beispiele dafür sind die Vorschläge für die substanzielle Erweiterung des Katastrophenmechanismus, für die Überarbeitung der Trinkwasser-Richtlinie oder für die EU-Mindestanforderungen für die Wiederverwendung von Abwässern in der Landwirtschaft.

Die nationalen Parlamente mussten erst lernen (und sie lernen noch immer), mit den neu geschaffenen, inhaltlich und juristisch sehr engen Mitwirkungsrechten in der EU-Gesetzgebung, mit dem sogenannten „Frühwarnmechanismus“, umzugehen. Die äußerst gegensätzlichen Stellungnahmen und ‚Subsidiaritätsrügen‘ zu ein und derselben Materie unterstreichen nicht nur die fehlende fachliche Basis und die unzureichende gegenseitige Abstimmung, sondern auch das jeweilige nationale politische Kalkül. Letzteres ist den nationalen Parlamenten als politische Organe auch voll zuzugestehen, wie ebenso ihr Bedürfnis nach echtem politischen Dialog, ja inhaltlicher Mitgestaltung. Der Lissaboner Vertrag ordnet ihnen im Wesentlichen nur ein politisches Prüfungsrecht betreffend ‚Subsidiarität‘ zu. Und die nationalen Parlamente laufen Gefahr, in der Reorganisation der Balance der Mächte und Kräfte in der EU insofern missbraucht worden zu sein, als sie lediglich im Lissaboner Vertrag berücksichtigt wurden, um die demokratische Legitimität der EU breiter aufzustellen.

Dem Ausschuss der Regionen (AdR) mit den treibenden Kräften der „starken“ Regionen (jene mit Gesetzgebungskompetenzen) waren die ‚EU-Verfassungsprinzipien‘ schon immer ein zentrales Anliegen. Die Regionen entwickelten frühzeitig praktische Tools, wie einen Prüfraster, ein Netzwerk für Subsidiaritätsfragen, eine politische Steuerungsgruppe und eine Expertengruppe mit Praktikern für die Subsidiaritätsprüfung. Der AdR ist ebenfalls geprägt von politischen Interessen, die wegen der Diversität seiner Mitglieder noch unterschiedlicher sind und in den „Stellungnahmen“ meist nur der kleinste gemeinsame Nenner Niederschlag findet. Die gelegentlichen Bedenken betreffend die ‚EU-Verfassungsprinzipien‘ gem. Art. 5 EU-V werden zwar bei anderen EU-Entscheidungsträgern nicht überhört, haben aber mangels echter Mitentscheidungsgewalt des AdR nur eine begrenzte Wirkung.

Hingegen wirkt der Rat als die nach wie vor gestaltendste Gesetzgebungskraft auf EU-Ebene als echte Bremse gegen Verletzungen der ‚Subsidiarität‘. In den Ratsverhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten von technischen und Ratsarbeitsgruppen angefangen bis hinauf zu den Ministerräten werden sukzessiv Bereiche, deren Kompetenzausübung die Kommission im Bereich der „geteilten oder akzessorischen Zuständigkeiten“ für die EU-Ebene vorschlägt, ‚zurückerobert‘. Dies erfolgt zumeist auf der inhaltlichen Ebene, indem Teilbereiche eines Gesetzesvorschlages nicht EU-zentral, sondern von den nationalen Behörden zu vollziehen sind, den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht mehr Flexibilität eingeräumt wird und überbordender Verwaltungsaufwand und Kosten zurückgedrängt werden. Dabei werden nicht direkt oder nur untergeordnet Argumente der Verletzung der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit vorgebracht. Im Ergebnis werden die Vorschläge der Kommission eher unbewusst im Sinne der Einhaltung der ‚EU-Verfassungsprinzipien‘ maßgeblich entschärft.

Den zweiten EU-Gesetzgeber, das Europäische Parlament, berührt die ‚Subsidiarität‘ noch weniger bis gar nicht. Die EU-Abgeordneten möchten ja für ihre mehr als 500 Millionen Bürger/innen zuständig sein und ‚Gutes‘ in allen Lebenslagen bewirken. In den Trilogen setzt sich zumeist die Haltung des Rates durch, insbesondere wenn diese die Zustimmung der Kommission – jetzt in der Rolle als Vermittler – findet. Es ist schließlich nicht verwunderlich, dass bis dato noch keine ausdrücklich auf die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips oder des Verhältnismäßigkeitsprinzips gestützte Klage beim EuGH gelandet ist. Die einzelnen durchaus fachlich die ‚EU-Verfassungsprinzipien‘ eindeutig verletzenden Vorschläge der Kommission wurden vorerst im Gesetzgebungsprozess durchaus so abgeändert, dass politisch eine Anfechtung aus diesem Grund für wenig sinnvoll und aussichtsreich angesehen wurde.

Dennoch ist der Stellenwert, das Verfahren zur Prüfung und die Vorgangsweise betreffend die in den EU-Verträgen verankerte Subsidiarität in vielfacher Weise verbesserungsbedürftig, nicht allein wegen der oben aufgezeigten, neu aufgebrochenen (politischen) Unzufriedenheit.

Die vielen Inputs und die kluge Vorsitzführung der Task Force Subsidiarität haben erstaunlicher Weise innerhalb eines halben Jahres klare, erfolgversprechende Ansätze dafür hervorgebracht. Hervorgehoben seien:

Die Task Force stellte auch wegen der nur in Ansätzen unterbreiteten Vorschläge unmissverständlich fest, dass eine Rückverlagerung („Renationalisierung“) von EU-Kompetenzen zu den Mitgliedstaaten nicht erforderlich sei. In allen Handlungsbereichen gäbe es grundsätzlich einen „Europäischen Mehrwert“.

Wichtig ist nun, dass die vielen guten Absichtserklärungen und Empfehlungen des Abschlussberichtes nicht wieder in Schubladen versickern. EK-Präsident Juncker hat sich vorbehalten, eine persönliche Antwort darauf in seiner traditionellen Rede zur Lage der Union zu Beginn der Herbstsession des Europäischen Parlaments zu geben. Um den von ihm inhaltlich gesetzten Schwerpunkt wird die Kommission eine umfassendere Mitteilung in der Folge unterbreiten, die – so ist zu hoffen – einige der Absichtserklärungen weiter konkretisiert und umsetzungsreif macht. Konkrete Detailvorschläge sind bereits durch die Arbeit der Task Force dokumentiert. Die österreichische Ratspräsidentschaft wird dem Thema eine eigene Konferenz (November, Bregenz) widmen. Die „starken“ Regionen unter der Initiative des Baskenlandes formieren sich und wollen mitunter das Thema ‚Subsidiarität‘ öffentlich und institutionell weiter diskutieren. Das Thema ‚Subsidiarität‘ poppt also weiter auf der Europäischen Agenda und ist Teil der Debatte um die Zukunft der Union.

Informationen zu Johannes Maier



Johannes MaierDr. Johannes Maier, Jahrgang 1961 studierte Rechtswissenschaften in Graz, war von 1986 mit 1994 Mitarbeiter von Regierungsmitgliedern in Kärnten, zuletzt Büroleiter-Stellvertreter bei Landeshauptmann Christof Zernatto; seit 1994 Leiter der EU-Koordinationsstelle des Landes Kärnten mit umfangreicher Vortragstätigkeit zu EU-Themen, Organisation von EU-Kommunikations- und Dialogprojekten gemeinsam mit regionalen Medien; fachliche Schwerpunkte sind Subsidiarität (u.a. Entwicklung des österreichischen Länderbeteiligungsverfahrens zur Prüfung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit; Mitglied der Expertengruppe Subsidiarität des Ausschusses der Regionen) und Europäischer Verbund für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ).

johannes.maier@ktn.gv.at

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