Wie Zentralspanien mit Katalonien umgeht

von Hans-Joachim Voth, 06.06.2018

Was kann, was darf die Mehrheit in einem demokratischen Staat? Seit sich die Katalonien-Krise im letzten Jahr verschärft hat, wird lebhaft diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen die Abspaltung eines Teilstaates innerhalb der EU erlaubt sein kann. Viele Katalanen begehren die Unabhängigkeit; gleichzeitig sind Spanier im Rest des Landes nahezu einstimmig dagegen.

Demokratie ist ein hohes Gut, aber sie ist nicht alles. Stellen Sie sich vor, sie ziehen in eine WG. Jeden Tag wird abgestimmt, was im Fernsehen läuft. Sie würden gern Fußball gucken, doch die drei Mitbewohner stimmen für den Naturfilm. Immer wieder. Und so sitzen sie da und lernen über das Leben der Waale, der Löwen, der Fledermäuse. Irgendwann reicht es ihnen, und Sie verkünden, daß sie sich jetzt einen eigenen Fernseher kaufen – und ihre Mitbewohner sagen nein, wir teilen uns die Lizenzgebühr und die Anschaffungskosten, das wird teurer. Wir haben ja abgestimmt! Demokratisch? Ja. Sinnvoll? Nein.

Die Situation in Spanien ist ähnlich. Das Land wird von der Partido Popular regiert. In Madrid hat sie eine relative Mehrheit der Abgeordneten – doch aus Katalonien kommen weniger PP-Abgeordnete als es Pinguine im Zoo von Barcelona gibt. Katalanen haben politische Präferenzen, die sich radikal vom Rest Spaniens unterscheiden. Katalanisch ist als Sprache so weit entfernt von Spanisch wie Italienisch, und die Region hat eine Geschichte politischer Unabhängigkeit, die älter ist als die meisten europäischen Nationalstaaten. Im Einheitsstaat Spanien geht ihre Stimme unter.

Liberale westliche Demokratien sind zumeist tolerant und großzügig gegenüber Minderheiten. In Kanada ist Französisch Amtssprache, und Quebec erhält viele Sondertransfers. Ähnlich Südtirol, oder Schottland – wer anders ist, bekommt eine Extrawurst. Ganz anders in Spanien. Katalonien zahlt nicht nur viel mehr in die Staatskasse ein, als es herausbekommt. Es erhält seit Jahren nur minimale staatliche Investitionen: die ersten Hochgeschwindigkeitszüge verkehrten zwischen Seville und Madrid, statt die zwei größten Wirtschaftszentren, Barcelona und Madrid zu verbinden; der staatliche Flughafenbetreiber AENA stranguliert den Flughafen Barcelona, um möglichst viele Flüge in Madrid zu konzentrieren.

Doch die schlechte wirtschaftliche Behandlung der Katalanen ist das kleinere Problem. Hinzu kommt die radikale Mißachtung von Minderheitenrechten. Man stelle sich vor, daß in der Schweiz nur Deutsch Amtssprache wäre – und der Bildungsminister verkündet, das Ziel seiner Politik sei, die anderssprachigen Bürger zu „germanisieren“? Absurd? In der Tat. Doch genau das ist die Situation heute in Katalonien. Kein Katalane kann seine Steuererklärung in seiner Muttersprache abgeben oder Gerichtsverfahren auf Katalan anstrengen.

Doch eine Bevölkerungsgruppe in Spanien hat weitreichende Sonderrechte: Die Basken. Sie sind so reich wie die Katalanen und haben eine ähnlich eigenständige Geschichte. Aber sie transferieren keine Steuern nach Madrid, und Baskisch ist dort Amtssprache. Warum? Jahrzehnte des Terrorismus, mit Hunderten von Opfern. Minderheitenschutz gibt es in Spanien nur als Belohnung für Bombenleger; wer auf Dialog setzt, wie es die Katalanen jahrzehntelang versucht haben, darf nur auf Ohrfeigen und Demütigung hoffen.

Die engstirnige Konfrontationspolitik sowohl der kalanischen Separatisten als auch der Madrider Zentralregierung hat dem Land in den letzten Jahren stark geschadet. Doch bei aller Bestürzung über die Rhetorik auf beiden Seiten und die Gewalt beim Oktober-Referendum letzten Jahres darf niemand die Augen vor der Realität verschließen – Zentralspanien agiert in Katalonien wie eine Kolonialmacht, die Minderheitenrechte mit Füssen tritt, unter dem Deckmantel der Demokratie.

Erstveröffentlichung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Juni 2018

 

 

Informationen zu Hans-Joachim Voth



Hans-Joachim VothHans-Joachim Voth wurde in Lübeck geboren und studierte in Freiburg, Florenz und Oxford. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich; von 1998 bis 2013 lehrte er an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona.

joachimvoth@gmail.com

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