Der deutsche Föderalismus in Corona-Zeiten
von Roland Sturm, 18.05.2020Der deutsche Föderalismus hat in Corona-Zeiten seinen unitarischen Charakter teilweise eingebüßt. Geblieben ist der Exekutivföderalismus. Die Dominanz der Landesregierungen gegenüber den Landesparlamenten wurde sogar noch verstärkt. Man sollte sich aber keinen falschen Hoffnungen hingeben. Die Deutschen sind kein Volk der Föderalismusanhänger geworden. Würde der Föderalismus in Deutschland höher geschätzt, käme wohl auch mehr Begeisterung über regionale Nähe und die Flexibilität auf, die der Föderalismus in der Corona-Krise ermöglichte. Ganz nach der klassischen Zuschreibung von 1932, die auf Louis Dembitz Brandeis, Richter am Supreme Court der USA zurückgeht, reagierte der deutsche Föderalismus auf die Krise (der amerikanische Föderalismus übrigens auch): „It is one of the happy incidents of the federal system that a single courageous state, if its citizens choose (in Deutschland müsste das seine Regierung heißen), serve as a laboratory, and try novel social and economic experiments without risk of the country.“ Das formale Recht der Länder zu handeln, wurde diesmal tatsächlich zu einem Recht zu entscheiden. Und der Bezug auf (bzw. die Legitimation von Entscheidungen für) Landesbelange war noch nie so direkt. Der unterschiedliche Grad der Betroffenheit von der Virus-Pandemie spielte eine große Rolle, aber auch die Entschlossenheit regional Handelnder, die immer noch regelmäßig als „Provinzfürsten“ in der öffentlichen Debatte abqualifiziert werden.
Der kooperative Föderalismus verschob die Gewichte von Solidarität auf Subsidiarität, und die Debatte ist nicht zu Ende. Der Vorschlag des Bundesfinanzministers, die Krisenfolgen für die Kommunen durch eine gemeinsame Leistung von Bund und Ländern finanziell abzumildern und dabei gleich noch Altschulden zu beseitigen, wurde von Bayern empört zurückgewiesen. Der kooperative Föderalismus ist sicher nicht tot. Dass die Länder neue Maßnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus unilateral und bereits vor den Terminen mit dem Bund (Länderregierungschef plus Kanzlerin) verkündeten, zeigt aber, dass sie die weitverbreitete Sicht des Bundes nicht teilen, dass sie lediglich dessen Verwaltungseinheiten seien. Sowohl im Bund als auch in den Ländern hatten die Parlamente Mühe, ihre Rolle als Kontrolleure der Regierung wahrzunehmen. Die Presse erhielt hier ein Übergewicht, weil Landes- und Bundesregierungen gemeinsam und getrennt wöchentlich zu Pressekonferenzen laden, bei denen unbequeme Fragen gestellt werden können.
Entstanden ist zum Teil auch ein Wettbewerbsföderalismus, der gelegentlich den besten Lösungen für Pandemiefolgen im Wege steht. Zum einen liegt das an der schlichten Wahrheit, dass Politiker keine Virologen sind. Letztere liefern die Fakten, die Grundlage politischen Handelns sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass angesichts der Neuheit und der Fortschritte von Erkenntnissen unterschiedliche Mediziner zu unterschiedlicher Zeit zu unterschiedlichen Entscheidungen kamen. Hat jedes Land spezifischen Sachverstand, in Nordrhein-Westfalen noch angereichert durch andere Disziplinen, kommen automatisch landesspezifisch unterschiedliche Entscheidungen zustande.
Überlagert wird dies durch den „Parteienstaat“. Das bayerische Vorpreschen am Anfang der Krisenbewältigung und die klare Position des bayerischen Ministerpräsidenten haben diesen in ganz Deutschland zu einem der beliebtesten Politiker gemacht. Das Corona-Virus hat den CDU-Parteitag, auf dem ein Nachfolger der Kanzlerin Merkel gefunden werden sollte verhindert. Kandidaten für den Vorsitz der CDU bzw. die Kanzlerkandidatur für die CDU/CSU bei der Bundestagswahl 2021 stehen in den Startlöchern und werden in der Corona-Krise auf ihre politischen Managementqualitäten getestet. Der Bundesgesundheitsminister Spahn gewann zunächst Profil, dann kamen aber Landespolitiker wie der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Laschet, mit dem Spahn ein Duo für den CDU-Vorsitz bildet, stärker ins Gespräch, ebenso wie der bayerische Ministerpräsident Söder beim Thema Kanzlerkandidatur. Der frühere CDU-Fraktionsvorsitzende im Bund Merz konnte fern von allen Ämtern nur Randbemerkungen einstreuen, ein wenig hilfreicher Weg zur Kanzlerschaft – wenn alles so weitergeht wie bisher. Was aber, wenn die Corona-Strategie der Ministerpräsidenten schief geht und die zweite Corona-Welle folgt?
In Deutschland werden wohl zwei Schuldige für das Versagen in der Krise genannt werden. Zum einen die wachsende und teils undisziplinierte Zahl der Gegner von Beschränkungen aufgrund der Corona-Krise, zum anderen der „Flickenteppich“ föderaler Entscheidungen, die alle angeblich verwirren und zu einem ungesunden Öffnungswettlauf geführt hätten. Das Märchen, dass Einheitlichkeit besser funktioniert als Föderalismus ist trotz der Katastrophen in Einheitsstaaten, wie Frankreich, nicht tot zu kriegen. Der demokratische Gewinn, der darin besteht, dass bei Landtagswahlen konkrete regionale Politik auf den Prüfstand gestellt werden kann, wird nach wie vor gering geschätzt. Rechenschaftspflicht der Regierung ist viel uninteressanter für die öffentliche Diskussion als die letzte Lügengeschichte der Internet-Verschwörungstheoretiker.
Der deutsche Föderalismus hat in der Krise gezeigt, dass er aus seiner, ihm vom Bund gerne zugedachte Rolle als Durchlauferhitzer für Verwaltungshandeln ausbrechen kann. Es wurde für die Öffentlichkeit deutlicher, was auch unser DFG-Projekt zu den Ausschussentscheidungen im Bundesrat gezeigt hat: Unterschiedliche regionale Interessen sind wichtiger sogar als Parteiinteressen. Ministerpräsidenten der gleichen Partei äußerten sich kritisch zu einzelnen Maßnahmen anderer Ministerpräsidenten, die Reaktionen auf die gegen die Maßnahmen von Landesregierungen gerichteten „Hygienedemonstrationen“ waren differenziert. Ein Nebeneffekt der Corona-Krise ist in Deutschland sicherlich die Erinnerung daran, dass der Föderalismus mehr Vielfalt kann bzw. können sollte. Ob diese Erkenntnis die Krise überlebt, ist allerdings zu bezweifeln.
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roland.sturm@fau.de
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