Der schweizerische Föderalismus funktioniert auch im Krisenmodus

von Eva Maria Belser, Andreas Stöckli und Bernhard Waldmann, 09.04.2020

Die gegenwärtige Situation, in der der Bund das Heft in die Hand nimmt, hebt den Föderalismus nicht auf, sondern versetzt ihn vielmehr in den von Verfassung und Gesetz vorgesehenen Krisenmodus.

Einleitung

Der schweizerische Föderalismus hat in den Krisenmodus gewechselt. Bis auf weiteres entscheidet der Bundesrat weitgehend in eigener Regie, wie die Schweiz mit der Pandemie umgeht. So sieht es das Epidemiengesetz vor. Solange die ausserordentliche Lage anhält, kann der Bundesrat «für das ganze Land oder für einzelne Landesteile» die notwendigen Massnahmen anordnen. Geht es darum, die Verbreitung von COVID-19 zu bekämpfen, ist es damit dem Bund seit dem 17. März erlaubt, auch Massnahmen in Kraft zu setzen, für die im Normalmodus die Kantone zuständig wären und an denen sie wenigstens mitwirken konnten, als sich die Schweiz noch in der Situation der «besonderen Lage» befand. Im Unterschied zu anderen Bundesstaaten, wie etwa bis vor kurzem in Deutschland, die über kein vergleichbares Epidemiengesetz verfügen, lassen es die schweizerische Bundesverfassung und das von der Bundesversammlung (und dem Volk) erlassene Gesetz ohne weiteres zu, dass der Bundesrat weitgehend allein sämtliche Massnahmen ergreift, die zur Bekämpfung der Epidemie erforderlich sind.

Steuerung durch den Bund

Das ist durchaus richtig so. Da die Epidemie das ganze Land betrifft – wenn auch auf unterschiedliche Weise und in Phasen, die nicht synchron verlaufen –, so erfordert ihre Bekämpfung zweifellos ein schweizweit harmonisiertes Vorgehen. Weil der Virus so wenig an den Grenzen Halt macht wie die Menschen, ist Koordination unerlässlich, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und zu verhindern, dass die Bemühungen eines Kantons aufgrund der Versäumnisse anderer ins Leere laufen. Einheitliche Regeln müssen in diesem Fall negativen Effekten der Vielfalt vorbeugen, etwa dem «Tourismus» in Kantone mit grosszügigeren oder strengeren Regeln. Ein eidgenössisches Vorgehen hat ausserdem den Vorteil, dass sich die Notmassnahmen, die sich laufend der Dynamik der Situation anpassen müssen, leichter vermitteln lassen – und zwar Bürgerinnen und Bürgern, den vielen ausländischen Personen, die in der Schweiz leben, den kleinen und auch den grossen Unternehmen und nicht zuletzt den Medien, die aufgrund der Medienkonzentration meist ein kantonsübergreifendes Publikum ansprechen und sich mit einheitlichen Massnahmen leichter tun als mit dem «Kantönligeist», mit dem viele Akteure den Föderalismus gleichzusetzen scheinen.

Im Normalfall sind die Kantone durchaus in der Lage, Informationen und Erfahrungen untereinander auszutauschen und ihre Vorgehensweisen auch ohne Gesamtsteuerung durch den Bund zu koordinieren. Liegt aber eine besondere und unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Gesundheit vor, so ist es nötig, einheitliche Massnahmen rascher beschliessen zu können. Die Massnahmen des Bundes, die zur Bewältigung der Krise erforderlich sind, gehen deshalb entgegenstehendem kantonalem Recht vor und können mit den Mitteln der Bundesaufsicht notfalls auch zwangsweise durchgesetzt werden. Diese Situation, in der der Bund das Heft in die Hand nimmt, hebt den Föderalismus nicht auf, sondern versetzt ihn vielmehr in den von Verfassung und Gesetz vorgesehenen Krisenmodus. Die Führung durch den Bundesrat verletzt auch den Grundsatz der Subsidiarität nicht, da es Notlagen gerade mit sich bringen, dass Aufgaben, die sonst ohne weiteres in der alleinigen Verantwortung der Kantone liegen können, deren Kräfte übersteigen oder einer einheitlichen Regelung bedürfen.

Vollzug durch die Kantone

Auch während der ausserordentlichen Lage bleiben die Kantone – und mit ihnen die Gemeinden – entscheidende Akteure. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie normalerweise für das Gesundheitswesen und insbesondere das Spitalwesen zuständig sind und sie es sind, die über das erforderliche Personal und die nötigen Erfahrungen verfügen. An den Kantonen ist es, die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen umzusetzen – auch wenn sie dazu unter Umständen die Unterstützung von Angehörigen des Zivilschutzes und der Armee in Anspruch nehmen. Weil der Bund im Bereich des Gesundheitswesens nur über punktuelle Kompetenzen verfügt, ist das Bundesamt für Gesundheit, ausgestattet mit gut 600 Fachkräften, dazu zum vornherein nicht in der Lage. Es wäre auch nicht sinnvoll, dass es sich – mehr als für die Koordination und Effizienz der Massnahmen erforderlich – in die Tätigkeit der Kantone einmischen würde: diese sind es, die die dynamische Lage vor Ort am besten kennen und am schnellsten in Erfahrung bringen können, wo neue Spitalbetten am besten eingerichtet und wo Tests am sichersten durchgeführt werden können.

Die Notmassnahmen des Bundes dürfen den Föderalismus so wenig aushöhlen, wie sie an den anderen prägenden Strukturen des schweizerischen Staatswesens rütteln dürfen. Zwar sind die Parlamente im Moment noch nicht wieder in Session (teilweise finden vereinzelt Sitzungen statt), doch dies bedeutet nicht, dass die Schweiz mehr Abstriche im Bereich der Demokratie in Kauf nehmen darf, als es die Lage zwingend erfordert. Zwar erlaubt das Epidemiengesetz dem Bundesrat die Einschränkung von Grundrechten, doch bedeutet dies nicht, dass die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit aufgehoben und nicht bei jeder Massnahme auf deren Verhältnismässigkeit bestanden werden müsste. Zwar kann der Bund ohne Mitwirkung der Kantone Entscheide über die Bekämpfung der Epidemie fällen, doch bedeutet auch dies nicht, dass die Autonomie und Mitwirkungsrechte der Kantone stärker beschnitten werden dürften, als die Situation es nötig macht.

Kantonale Vielfalt auch im Krisenmodus sinnvoll

Dass die Covid-Verordnungen – wie alles Bundesrecht – kantonalem Recht vorgehen, steht ausser Frage. Was aber gilt jenseits der Notverordnungen des Bundes? Seit der Änderung vom 16. März hält die COVID-19-Verordnung 2 ausdrücklich fest, dass die Kantone ihre Zuständigkeiten bewahren, soweit die Verordnung nichts anderes bestimmt. Dies gälte auch ohne diese Bestimmung, denn bei der Kompetenz des Bundes im Bereich der Bekämpfung von Epidemien handelt es sich um eine konkurrierende: Die Zuständigkeit des Bundes bringt jene der Kantone nicht zum Erlöschen. Nur wenn und nur soweit der Bund seine Kompetenzen nutzt, verdrängt das Bundesrecht abweichendes und selbst gleichlautendes kantonales Recht. Die Autonomie der Kantone hängt damit davon ab, ob der Bund seine Zuständigkeiten umfassend oder nur teilweise nutzt und ob er mit seinen Massnahmen auf eine schweizweite Vereinheitlichung zielt oder nur harmonisiert und einen Mindeststandard festlegt, den die Kantone zwar nicht unter- wohl aber überschreiten können.

Diese Fragen lassen sich nicht allgemein beantworten, sondern nur mit Blick auf einzelne Rechtsfragen. Hält die Verordnung etwa fest, dass Präsenzveranstaltungen in Schulen, Hochschulen und übrigen Ausbildungsstätten grundsätzlich verboten sind, so steht fest, dass die Kantone in dieser Frage keine Regeln erlassen können, die über den Vollzug des Verbots hinausgehen. Anders sieht es im Bereich der Veranstaltungen und Betriebe aus. Hier bezeichnet die Verordnung einerseits Einrichtungen, die für das Publikum zu schliessen sind (z.B. Restaurantbetriebe, Bar- und Erotikbetriebe, Museen und Kinos) und nennt anderseits Einrichtungen, die vom Verbot nicht erfasst sind (z.B. Lebensmittelläden, Apotheken, Poststellen und Tankstellen). Was aber gilt für Einrichtungen und Betriebe, die weder in der einen noch in der anderen Liste erscheinen? Hat der Bundesrat entschieden, dass diese – obwohl sie in der Liste gerade nicht vorkommen – offenbleiben müssen und den Kantonen keinerlei Entscheidungsspielraum bleibt? Oder hat er nur ein Minimum an Betrieben genannt, die zwingend schliessen müssen, und ein anderes Minimum an Betrieben festgelegt, die zwingend offenbleiben müssen und dazu zwischen ein Fenster für kantonale Entscheide belassen?

Vereinheitlichung oft unverhältnismässig

Für letzteres spricht, dass der Bund auch im Rahmen einer ausserordentlichen Situation an den föderalen Grundsatz der Subsidiarität und den rechtsstaatlichen Grundsatz der Erforderlichkeit gebunden bleibt. Aus diesen ergibt sich in den meisten Fällen, dass der Bund ein schweizweites Minimum an Massnahmen zur Bekämpfung von Covid 19 sicherstellen muss, aber nicht auf eine vollständige Vereinheitlichung der Massnahmen zielen sollte. Die einzelnen Kantone sind aufgrund ihrer Grösse, Lage und Bevölkerung ganz unterschiedlich von der Epidemie betroffen. Es liegt auf der Hand, dass in dicht besiedelten Gebieten andere Massnahmen erforderlich sein können als in ländlichen. Es ergibt sich aber auch daraus, dass die Betroffenheit der einzelnen Regionen der Schweiz sich im Laufe der Zeit wandelt. Was im Moment in vielen Kantonen noch als unangemessene Einschränkung der Rechte und Freiheiten Einzelner erscheint, mag in anderen Kantonen bereits als erforderlich und zumutbar gelten. Umgekehrt könnte das Abflachen der Kurve der Ansteckungen in einzelnen Kantonen bereits eine Lockerung der Massnahmen erlauben, während diese in anderen weiterhin nötig sind.

Einheitliche Regeln sind deshalb in vielen Fällen problematisch: Sie gehen für einzelne Regionen zu wenig weit, um wirksam zu sein, und in anderen über das Erforderliche hinaus. Sie sind deshalb nicht nur aus föderalistischer, sondern auch aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch. Gilt nur ein Massstab, muss auf eine durchschnittliche Situation in den Kantonen abgestellt werden. Damit werden die Massnahmen aber weder jenen Kantonen gerecht, die im Moment ganz besonders von der Epidemie betroffen sind oder die «Welle» demnächst erwarten, noch jenen, die sich – noch oder wieder – in relativer Sicherheit wiegen. Der Drang nach rechtlicher Einheit trotz offensichtlicher Vielfalt der epidemiologischen Lebenswelt ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil er die romanischen und deutschsprachigen Landesgegenden entzweit, wo doch gerade die Krise ein Vorgehen gebietet, das den Zusammenhalt stärkt.

Woher also kommt der grosse Widerstand gegen unterschiedliche Regelungen in den Kantonen? Warum ist die Tendenz so verbreitet, den Wert der Vielfalt zwar zu beschwören, diese aber als problematisch zu empfinden, wann und wo immer sie sich zeigt? Worin wurzelt der Glaube, dass alles besser kommt und effizienter wird, wenn an einem Ort – und damit notwendigerweise weit weg vom Geschehen – für alle entschieden wird? Ginge es nur um eine möglichst wirksame, rechtsstaatliche und demokratische Bekämpfung der Epidemie, so müsste man um jeden Kanton froh sein, dem es gelingt, in der Verhütung von Übertragungen noch effizienter zu sein, als es der Bund für alle zur Pflicht macht. Weitergehende Massnahmen wären dann nur (aber selbstverständlich immer dann) ein Problem, wenn sie auf unverhältnismässige Weite in Grundrechte eingriffen oder rechtsstaatliche Prinzipien verletzten. Dies zu beurteilen, wäre aber weniger am Bundesrat als vielmehr an den gerichtlichen Behörden. Dass der Bund dies zunächst anders sah und weitergehende Massnahmen der Kantone als unzulässig erachtete (ohne dieser Ansicht allerdings Nachdruck zu verschaffen), hatte denn auch weniger mit der Bekämpfung der Epidemie als vielmehr mit anderen, namentlich wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Interessen zu tun.

Zu Recht hat der Bundesrat am 27. März eine Änderung der Verordnung beschlossen, die es Kantonen erlaubt, kurzzeitig die Tätigkeit bestimmter Wirtschaftsbereiche einzuschränken oder einzustellen, wenn die epidemiologische Situation dies erfordert. Der Anstoss für die Errichtung besonderer «Krisenfenster» kann damit von den Kantonen ausgehen, was als sehr sinnvolle Lösung erscheint. Die Kantone sind mit den lokalen Besonderheiten – und der Akzeptanz weitergehender Massnahmen – am besten vertraut und auch am schnellsten in der Lage, das Gespräch mit den betroffenen Wirtschaftsbereichen zu suchen und Lösungen für die Betriebe, ihr Personal und ihre Kundschaft zu finden. Die revidierte Verordnung sieht vor, dass die Errichtung «kantonaler Krisenfenster» der Genehmigung des Bundes bedarf. Dass eine solche erforderlich ist – und eine Informationspflicht nicht genügt – ergibt sich daraus, dass die weitergehenden Massnahmen des Kantons wirtschaftliche Folgen zeitigen, die auch den Bund betreffen.

Notstand jenseits der Epidemie

Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen befindet sich nämlich nicht nur im Bereich der unmittelbaren Bekämpfung der Epidemie im Notstandsmodus – und dieses allgemeine Notrecht ergänzt und überlagert die epidemologischen Massnahmen. Der Bund hat angesichts der gegenwärtigen Krise nicht nur Massnahmen erlassen, die sich auf das Epidemiengesetz stützen, sondern auch sein allgemeines Notverordnungsrecht genutzt. Unmittelbar gestützt auf die Verfassung hat er – zum Schutz der äusseren und inneren Sicherheit und der Beziehungen zum Ausland – umfassende Massnahmen zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Ausbreitung des Coronavirus beschlossen. Diese Massnahmen (möglicherweise aber auch die epidemiologischen) unterstehen dem allgemeinen Notrechtregime und müssen, wollen sie über eine Dauer von sechs Monaten hinaus Bestand haben, in Erlasse des Parlaments überführt werden.

Das Unbehagen gegenüber weitergehenden kantonalen Massnahmen steht wohl auch im Zusammenhang mit diesen Massnahmen. Es steht die Befürchtung im Raum, dass Kantone mit strengeren Massnahmen dem Bund zusätzliche Kosten und Risiken etwa in den Bereichen der Arbeitslosenversicherung, der Kurzarbeitsentschädigung, der beruflichen Vorsorge oder der Liquiditätshilfen für Unternehmen aufbürden. Diese Bedenken sind allerdings kaum gerechtfertigt. Gesuche um Unterstützung durch den Bund kann nur stellen, wer aufgrund der allgemeinen Situation oder von Massnahmen des Bundes in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Das Gleiche muss gelten, wenn der Bundesrat die Errichtung eines kantonalen Krisenfensters genehmigt und damit die besonders aussergewöhnliche Lage des Kantons anerkennt. Die revidierte Verordnung hält denn auch fest, dass die Kurzarbeitszeitentschädigungen des Bundes nur dann entfallen, wenn die Massnahmen eines Kantons «über die Ermächtigung des Bundesrates» hinausgehen. Wer aufgrund weitergehender – und vom Bundesrat nicht genehmigter – kantonaler Massnahmen, z.B. der Schliessung von Baustellen oder Betrieben, die glaubhaft machen können, dass sie die Präventionsmassnahmen des Bundes einhalten, wirtschaftliche Einbussen erleidet, muss seine Wünsche nach Unterstützung an den Kanton richten. So strapaziert der Alleingang einzelner Kantone die eidgenössische Solidarität nicht. Im Gegenteil, gelingt es einem Kanton mit Hilfe rechtsstaatlicher, insbesondere verhältnismässiger Massnahmen, die Ausbreitung der Epidemie auf dem eigenen Gebiet noch wirksamer zu bekämpfen als der Bund, so kommt dies allen Kantonen, dem Bund und der gesamten Bevölkerung zu gute.

 

Dieser Beitrag stammt aus der "Sonderausgabe Newsletter IFF 2/2020" des Instituts für Föderalismus in Fribourg und ist unter folgendem Link abrufbar: https://www3.unifr.ch/federalism/de/assets/public/files/Newsletter/IFF/Newsletter_COVID-19_Beitrag_Belser_Stoeckli_Waldmann.pdf

 

Informationen zu Eva Maria Belser, Andreas Stöckli und Bernhard Waldmann



Eva Maria Belser, Andreas Stöckli und Bernhard WaldmannDas Institut für Föderalismus von der Universität Freiburg wird von den Professoren Eva Maria Belser und Bernhard Waldmann im Rahmen einer Co-Direktion geleitet. Als weiteres Mitglied wirkt Prof. Andreas Stöckli in der Direktion mit. Die Mitglieder der Direktion haben je einen Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht inne und stellen so die enge Zusammenarbeit zwischen Universität und Institut sicher.


federalism@unifr.ch

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