Sezessionsbewegungen, Föderalismus und demokratischer Verfassungsstaat
von Christian Ranacher, 11.12.2014Schottland mit seiner Volksabstimmung über eine Unabhängigkeit am 18.September 2014, Katalonien mit dem inoffiziellen Referendum in derselben Sache am 9. November 2014, die schon lange währenden - zeitweise durch bewaffneten Kampf und Terrorismus begleiteten - Sezessionsbestrebungen im Baskenland und in Korsika, neuere Bewegungen in Italien (seit Beginn der 90er Jahre bekannt unter dem Projekt für einen norditalienischen Staat namens "Padanien", neuerdings mit Überlegungen für eine Unabhängigkeit von
Venetien) - die Liste ließe sich noch fortsetzen. Was ist los in Europa?
Zerbröselt die im Kern seit dem ersten Weltkrieg bestehende nationalstaatliche Ordnung? Wird sie zwischen der ihre Kompetenzen immer mehr erweiternden supranationalen Ebene der EU und den aufstrebenden Regionalbewegungen samt fortschreitender Dezentralisierung und Föderalisierung einstmaliger Einheitsstaaten gleichsam zerrieben?
Fragen, die hier nicht beantwortet werden können, die aber zum Anlass für Überlegungen genommen werden sollen, wie im demokratischen Verfassungsstaat mit derartigen Problemen umgegangen werden sollte. Damit ist auch die - delikate und immer noch ungelöste - Frage angesprochen, wie sich die an sich gleichrangigen völkerrechtlichen Prinzipien der Anerkennung der territorialen Integrität der Staaten einerseits und des Selbstbestimmungsrechtes der Völker andererseits zueinander verhalten bzw. wie sie im Konfliktfall gegebenenfalls in einen Ausgleich gebracht werden können.
Drei Aspekte scheinen mir wesentlich:
1. Im demokratischen Verfassungsstaat kann es zu einer legitimen Sezession nur kommen, wenn diese in einem geordneten verfassungsmäßigen Verfahren demokratisch konsentiert wird. Daraus ergibt sich einerseits ein Gebot an die Befürworter einer Sezession, diese (nur) mit gewaltlosen und demokratischen Mitteln anzustreben, andererseits ein Gebot an den betroffenen Staat, eine verfassungsrechtlich legitimierte demokratische Willensbildung in einer solchen Angelegenheit zu ermöglichen. In der Regel wird es sich dabei entweder um eine repräsentativ-demokratische Willensbildung (etwa ein Votum des Parlaments jener Region, deren Unabhängigkeit in Rede steht, sofern es denn ein solches gibt) oder um eine Abstimmung der dort lebenden Bevölkerung über die Sezession, wie vor kurzem in Schottland, handeln. Ist ein solcher Weg verfassungsgesetzlich nicht eröffnet, dann kann das - wie aktuell das Beispiel Katalonien/Spanien zeigt - zu zusätzlichen Spannungen und Problemen führen. Und dass in beiden Varianten immer nur ein Teil der (repräsentierten) Bevölkerung faktisch über das Schicksal des Gesamtstaates entscheidet, bleibt ein Problem, das aber bei konsequenter Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes wohl nicht ausgeräumt werden kann. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bleibt stets nur eine demokratisch konsentierte Lösung akzeptabel und legitim, gegebenenfalls nach einer entsprechenden Anpassung der Verfassung, um einen diesbezüglichen Willensbildungsprozess verfassungskonform zu ermöglichen, wobei der Druck, etwa ein an sich nicht vorgesehenes Unabhängigkeitsreferendum zuzulassen, in der Regel steigen wird, wenn der betroffenen Region keine akzeptable Alternativlösung angeboten wird.
2. Die - vielfach für beide Seiten attraktivere - Alternative zu einer Sezession wird häufig in der Gewährung von (weitgehenden) Autonomierechten für die betroffene Region liegen. Das zeigt gerade auch das Beispiel Schottland. Eine Trennung wäre wohl für beide Seiten schon kurzfristig die schlechtere Variante gewesen:
- Für Schottland, weil es als Teil des Vereinigten Königreichs von dessen Stellung in der Welt politisch und wirtschaftlich profitiert, alleine eine solche Position aber weder politisch noch wirtschaftlich erlangen könnte;
gleichzeitig wäre die Eigenstaatlichkeit mit ganz erheblichen politischen (Stichwort: Zugehörigkeit zur EU) und wirtschaftlichen Risiken (Währungsfrage, Trennung eines gewachsenen und stark miteinander verflochtenen Wirtschaftsraums) verbunden gewesen.
- Für den im Fall einer Sezession Schottlands verbleibenden Rest des Vereinigen Königreichs, weil es mit dessen verbliebener "Weltgeltung" wohl sehr schnell vorbei gewesen wäre und auch die wirtschaftlichen und
politischen Folgewirkungen auf Jahre hinaus dazu geführt hätten, dass man auf den britischen Inseln primär mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.
Es ist daher keineswegs überraschend, dass den Schotten vor der Abstimmung der (starke) Ausbau der schon seit einiger Zeit gewährten Autonomierechte in Aussicht gestellt wurde. Dies hat in Großbritannien mittlerweile eine ganz grundsätzliche Verfassungsdebatte ausgelöst, weil ja im Rahmen der sogenannten Devolution bislang in Nordirland (als Ausfluss des dortigen Friedensprozesses), in Wales und in Schottland Regionalparlamente geschaffen wurden, nicht aber in England, obwohl dort 84 Prozent der Bevölkerung des
Vereinigten Königreichs leben. Gut möglich, dass sich nun auch das Vereinigte Königreich - ganz ähnlich wie in der Vergangenheit schon Italien - von einem Einheitsstaat zu einer Art Regionalstaat wandelt. Neben Italien wurde auch in Belgien und Spanien Sezessionsbewegungen - zumindest bislang - nicht ohne Erfolg mit einer stärkeren Föderalisierung begegnet. Sollte dies jedoch den Konflikt nicht beruhigen, dann kann es zu einer Situation kommen, in der eine - geordnete - Sezession unausweichlich wird.
3. Kommt es zu einer Sezession, dann muss sie in einem geordneten Verfahren unter angemessener Berücksichtigung der Interessen beider Teile verfassungs- und völkerrechtskonform durchgeführt werden. Dass das auch unter nicht unbedingt einfachen Voraussetzungen gelingen kann, zeigt das Beispiel des Auseinanderbrechens der Tschechoslowakei Anfang der 90er Jahre mit der Gründung Tschechiens und der Slowakei. Das - negative - Gegenbeispiel des Zerfalls Jugoslawiens zur selben Zeit ist bekannt und zeigt gleichzeitig auch das Risiko auf, wenn es nicht gelingt: Das Entstehen eines - möglicher Weise über Jahre nicht mehr kontrollierbaren - bewaffneten Konflikts mit langfristigen Folgen für die betroffene Region.
Es soll nicht übersehen werden, dass ein verantwortungsvoller, auf dem Boden der Vorgaben des Verfassungs- und Völkerrechts stehender Umgang mit Sezessionsbewegungen hohe Anforderungen an die handelnden Personen stellt und gerade in einer stark konfliktbeladenen und/oder historisch belasteten Ausgangssituation nicht immer "schulmäßig" verwirklicht werden kann. Dennoch gibt es dazu im demokratischen Verfassungsstaat keine Alternative. Klar scheint mir zudem auch, dass - einen vernünftigen und sachlichen Zugang vorausgesetzt - gezielte und gut überlegte Schritte zu einer stärkeren Föderalisierung des betreffenden Staatswesens in aller Regel die bessere Alternative zu einer Sezession sind. Dies selbst dann, wenn einer Sezessionsbewegung ethnische oder religiöse Konflikte zugrunde liegen sollten; denn solche scheinen in einer bundesstaatlichen Organisation mit ausgebauter Gliedstaatlichkeit durchaus auflösbar und einem Ausgleich zuführbar, wie Beispiele aus der Geschichte zeigen (der letztlich aus einem bewaffneten Konflikt zwischen den katholischen und reformierten Kantonen hervorgegangene Schweizerische Bundesstaat ist eines davon). Voraussetzung für eine solche Lösung ist aber stets, dass es immer noch ein gemeinsames Band und eine gemeinsame Identität zwischen den betroffenen Regionen/Bevölkerungsgruppen gibt, das freilich auch in einem klug organisierten gemeinsamen Bundesstaat, der Vielfalt in Einheit ermöglicht, wieder neu entstehen und wachsen kann.
Föderalisierung wird nicht immer das Patentrezept für die gewaltfreie Kanalisierung von Konflikten und Sezessionsbewegungen innerhalb eines Staatswesens sein. Es ist aber eine Chance, die versucht werden sollte, bevor man - möglicher Weise befeuert durch einen dann unvermeidlichen bewaffneten Konflikt - getrennte Wege geht. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob die einleitend aufgezählten Fälle von Sezessionsbestrebungen in europäischen Staaten dort weitere Föderalisierungsschübe auslösen und somit insgesamt zu einer stärkeren Föderalisierung und Dezentralisierung Europas führen. Damit würde ein Prozess fortgesetzt, der bereits vor etwa drei Jahrzehnten in einer Reihe von Zentralstaaten begonnen hat. Sonderbar nur, dass in Österreich sub titulo Staatsreform meist nur von einer stärkeren Zentralisierung die Rede ist - dabei würde auch uns (wie dem Rest von Europa) "ein bisschen mehr Schweiz" nicht schaden (siehe in diesem Sinn auch den Blog von Peter Josika vom 21.10.2014).
Informationen zu Christian Ranacher

christian.ranacher@tirol.gv.at
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