Subsidiarität als föderales Prinzip - ein Instrument zur Konfliktlösung?
von Soeren Keil, 27.11.2023In diesem Beitrag wird erörtert, wie das föderale Prinzip der Subsidiarität helfen kann, Länder, die von Staatszerfall, Gewalt und Sezessionskonflikten gekennzeichnet sind, nicht nur zu pazifizieren, sondern auch ein potentielles Mittel sein kann, den Staat neu zu denken, und so den Wiederaufbau und lokale wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Dabei wird über das Subsidiaritätsprinzip in der Schweizer Verfassung Bezug genommen, um das Prinzip zu definieren und einzuordnen.
Einleitung
Was haben Somalia, Syrien und Myanmar gemeinsam? Trotz der medialen Dominanz auf dem Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, sind alle drei Länder von anhaltenden Konflikten, von Vertreibung und von Gewalt geprägt. In allen drei Ländern kämpfen Regionen um Anerkennung oder Unabhängigkeit, und es fehlt der Zentralregierung an der vollen territorialen Kontrolle über das Staatsgebiet. Hinzu kommt, dass es in allen drei Ländern eine intensive Föderalismusdiskussion gibt. Somalia hat darüber hinaus seit 2012 sogar eine Föderalismus-aspirierende Verfassung, die zwar eine föderale Lösung vorsieht, aber noch keine Kompetenzen oder Ressourcen verteilt.
Was aber hat die Diskussion über Somalia, Syrien und Myanmar mit Subsidiarität, und dessen Anwendung im Schweizer Bundesstaat zu tun?
Subsidiarität
Beim Begriff der Subsidiarität handelt es sich um ein komplexes föderales Prinzip. In der Schweiz wird der Begriff in Artikel 5a der Schweizer Bundesverfassung aufgegriffen, wo es heisst:
«Art. 5a Subsidiarität
Bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten.»
Subsidiarität ist Teil der verfassungsrechtlichen Föderalismusordnung. Es wird oft als staatspolitische Maxime bezeichnet, d.h. es gilt zwar als Ordnungsprinzip und ist für alle Ebenen staatlicher Gewalt bindend – auch weil es sich in den Allgemeinen Bestimmungen am Anfang der Verfassung findet –, aber es ist nicht justiziabel. In der Forschung vertritt eine Minderheitenmeinung die Ansicht, dass das Subsidiaritätsprinzip in konkreten Anwendungsfällen justiziabel sei. Als Prinzip muss es mit Artikel 3 BV zusammengelesen werden (Souveränität der Kantone), und wird in Artikel 43a BV spezifiziert.
Dort heisst es in Absatz 1:
«Art. 43a Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben
1 Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen.»
Aus diesem Verständnis bedeutet Subsidiarität also, dass die obere Ebene (im Falle der Schweizerischen Konföderation ist dies der Bund) nur jene Aufgaben übernehmen kann, die weder die Kantone einzeln noch im Verbund erledigen können. Der Bund darf also keine Kompetenzen an sich reissen, wenn diese auch von den Kantonen erfüllt werden können. Das Gleiche gilt wohl auch für die Kantone im Verhältnis zu den Gemeinden, da das Subsidiaritätsprinzip alle Regierungsebenen bindet und Artikel 50 Absatz 1 BV die Gemeindeautonomie (nach Massgabe des kantonalen Rechts) schützt. Man spricht in diesem Zusammenhang von Subsidiarität als Kompetenzverteilungsregel. Daneben bezieht sich Subsidiarität aber auch auf die Implementierung von Kompetenzen, dieses Verständnis wird als Kompetenzausübungsregel bezeichnet. Demnach muss laut Schweizer Verfassung der Bund in der Implementierung seiner Entscheidungen Rücksicht auf die Kantone nehmen.
Zwar wird das Subsidiaritätsprinzip generell als Instrument gesehen, um die Autonomie der lokalen und regionalen Ebenen gegen Zentralisierungstrends zu schützen (die auch in der Schweiz sichtbar sind), allerdings bedeutet Subsidiarität keineswegs nur ein Schutz für dezentrale Entscheidungskompetenzen, sondern kann auch eine Rechtfertigung für Zentralisierung sein, wo diese sinnvoll ist, um z.B. Einschränkungen der Chancengleichheit durch landesweite Lösungen zu vermeiden, aus technischen Gründen einheitliche Regeln und Standards festzulegen, oder wenn dezentrale Lösungen substantiell die Kosten erhöhen oder zu Doppelspurigkeiten und hohen Koordinierungsaufwand führen, wie der Bundesrsat selbst in einem Bericht aus dem Jahr 2014 festgehalten hat, und wie auch in Forschung und Lehre von verschiedenen AutorInnen hervorgehoben wird.
Subsidiarität ist daher als ein dynamisches Prinzip zu verstehen, und die Kernfrage steht im Raum, wer denn entscheidet, welche Ebene am besten und wann handeln kann? Ganz generell in der Schweiz sind dies zunächst einmal der Bundesverfassungsgeber (für das Verhältnis Bund-Kantone) und die Kantonalsverfassungsgeber (für das Verhältnis von Kantonen und den zugehörigen Gemeinden). Aber wir wissen, dass sich Aufgaben, Kompetenzen und Zuständigkeiten über gewissenZeiträumen verschieben, und immer die Gefahr einer Zentralisierung droht (sowohl in den Kantonen, Zentr. von Gemeindeaufgaben, als auch auf Bundesebene, Zentralisierung von Kantonsaufgaben). Dafür gibt es viele Gründe, z.B. die Kleinstaatlichkeit der Kantone in der Schweiz, und die existierende und wachsende Asymmetrie zwischen den Kantonen.
Subsidiarität, Peace-Building und Demokratisierung
Was aber hat dieses komplexe Prinzip des Schweizer Verfassungsrechts mit den drei am Anfang erwähnten Ländern zu tun? Hier ist es wichtig, sich nochmals in Erinnerung zu rufen, was die drei Länder gemeinsam haben: In allen drei Ländern fordern verschiedene Gruppen Autonomie und Anerkennung; nationale Verfassungen sollen entweder revidiert oder völlig überarbeitet werden, dabei sollen Dezentralisierungs – und Föderalismusprinzipien Eingang in die Verfassungen finden; und in allen drei Ländern geht es darum, den Staat neu zu denken, um Konflikte zu überkommen, und ein friedliches Zusammenleben verschiedener Gruppen, Religionen und Clans zu ermöglichen.
Hier ist die Kernlektion, die alle drei Systeme vom Schweizer Verfassungsmodell lernen können: In einem multikulturellen, diversen Staatswesen ist es wichtig, den Staat von unten nach oben zu denken. Gemeinden und Regionen werden in den drei Ländern nicht nur eine wichtige Rolle beim Schutz von Minderheitensprachen, verschiedenen Kulturgütern, und bei der bevorstehenden Demokratisierung spielen, sondern sie werden auch fundamental sein, wenn wir an den Wiederaufbau und die langfristige wirtschaftliche Entwicklung der drei Länder denken. Die gegenwärtigen Verfassungsprozesse enthalten zwar Diskussionen zum Thema Föderalismus und der Dezentralisierung von Kompetenzen und Finanzeinnahmequellen, aber es fehlt bis heute ein Bekenntnis zum Prinzip der Subsidiarität als das Kernelement (zusammen mit fiskalischer Äquivalenz und dem Autonomieprinzip) der verfassungsrechtlichen Föderalismusordnung. Dabei bietet Subsidiarität wichtige Chance für die drei Länder:
- Als Verfassungsprinzip hilft es Kompetenzen zu verteilen und verschiedene Ebenen, und deren Kompetenzen zu stärken und Autonomie zu schützen.
- Als Prinzip eines Staatswesens, dass von unten nach oben gedacht wird, hilft es die Rechte von verschiedenen Gruppen in jenen Gemeinden und Regionen anzusiedeln und zu schützen, wo diese leben, z.B. durch ein dezentralisiertes Bildungswesen, die Fähigkeit für verschiedene Gemeinden/Regionen Minderheitensprachen als offiziell anzuerkennen und die politische Teilhabe vor allem von kleineren Gruppen zu stärken.
- Das Subsidiaritätsprinzip greift in allen drei Ländern jene Ebenen auf, in denen staatliches Handeln bereits jetzt funktioniert und oft weniger kontestiert ist. Vor allem auf der lokalen Ebene (und in Myanmar und Syrien auch auf regionaler Ebene) werden öffentliche Güter zur Verfügung gestellt, auch wenn der Rest des Staats als «gescheitert» gilt, was in Somalia z.B. lange der Fall war.
Zusammenfassung
Subsidiarität als Teil der verfassungsrechtlichen Föderalismusordnung kann einen wesentlichen Beitrag zu wichtigen Reformen und Fortschritten in der Demokratisierung jener Staaten leisten, die gegenwärtig durch Konflikte und Gewalt daran gehindert werden, effizient als Staatswesen zu funktionieren. Das Schweizer Föderalismusmodell funktioniert nicht in anderen Teilen in der Welt, es ist einzigartig und historisch gewachsen, dadurch vor allem durch die Geschichte, und verschiedene historische Zufälle geprägt wurden. Aber eine wichtige Lektion des Schweizer Systems ist das Verständnis eines Staatswesens, das in der Gemeinde beginnt, und in welchem der Bund nur dann handelt, wenn es wirklich von Nöten ist. Gerade in Ländern, die durch Staatszerfall, Diktaturen und Bürgerkrieg gekennzeichnet sind, könnte ein solcher Ansatz zur Reform und Neuausrichtung des Staatswesens einen wesentlichen Beitrag zu Frieden und Demokratisierung leisten.
Informationen zu Soeren Keil
Sören Keil, PhD ist Akademischer Leiter des Internationalen Forschungs- und Beratungszentrums am Institut für Föderalismus, an der Universität Freiburg (Schweiz). Er hat unter anderem zu Föderalismus als Konfliktlösungsinstrument geforscht. Sein neustes Buch ist Power-Sharing in the Global South – Patterns, Practices and Potentials (erscheint Anfang 2024 bei Palgrave, zusammen mit Eduardo Aboultaif und Allison McCulloch).
soeren.keil@unifr.ch
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