Südtirols Autonomie auf dem Prüfstand

von , 06.07.2017

Südtirols Autonomie gilt gemeinhin als Modell für den Minderheitenschutz. Sie  ist im Pariser Abkommen von 1946 grundgelegt, mit dem sich Italien gegenüber Österreich zur Verwirklichung einer Reihe von Maßnahmen zum Schutz der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols verpflichtet (die Ladiner wurden völkerrechtlich im Rahmen der weiteren Praxis miteinbezogen). Dazu  gehören einerseits eine Reihe von Maßnahmen wie die Sicherstellung der Schule in der Muttersprache und des Sprachgebrauchs bei öffentlichen Ämtern oder  Gleichberechtigung der Deutschsprachigen beim Zugang zum öffentlichen Dienst. Zum anderen verpflichtet das Pariser Abkommen Italien zur Verwirklichung einer Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie. Der 1961 von Österreich vor der UNO erhobene Streit hinsichtlich der unzureichenden Umsetzung der italienischen Verpflichtungen wurde 1992 durch die Streitbeendigungserklärung beigelegt, mit der ein für die Schutzmacht Österreich zufriedenstellendes Umsetzungsniveau der völkerrechtlichen Verpflichtungen anhand des Autonomiestatuts, das ein Verfassungsgesetz ist, seiner Durchführungsbestimmungen und weiterer normativer Akte Italiens festhalten wurde.

Nach 1992 sind eine Reihe von Entwicklungen zu verzeichnen, die Auswirkungen auf die Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie Südtirols haben, sowohl durch Änderungen der italienischen Verfassungsrechtsordnung, insbesondere durch die Verfassungsreform vom 2001, als auch durch die Europäische Union. Dies hat die Südtiroler Landesregierung 2013 zum Anlass genommen, um die Universität Innsbruck mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen, das die Entwicklungen und Veränderungen der Südtiroler Autonomie seit 1992 darstellen und auswerten sollte. Ziel war, sozusagen den Gesundheitszustand der Südtiroler Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie zu erfassen und zu überprüfen, auch mit Blick auf Initiativen für den weiteren Ausbau der Südtiroler Kompetenzen.

Methodisch wurde dabei wie folgt vorgegangen: Ausgehend von einer überblicksmäßigen Darstellung  der völker- und europarechtlichen Rahmenbedingungen und der  wesentlichen (verfassungs)rechtlichen Grundlagen der Südtiroler Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie, wurden die im Autonomiestatut verankerten Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Landes Südtirol einzeln analysiert, wobei die Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut und insbesondere die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs die zentralen Elemente bildeten, ebenso der durch die europäische Integration geschaffene Rahmen. Die Analyse umfasste zunächst das Herausarbeiten des Standes im Jahr 1992, danach  die Entwicklung bis zur Verfassungsreform des Jahres 2001, die durch ihre Änderungen im Kompetenzgefüge zwischen Staat, Regionen und Gemeinden als einschneidend bezeichnet werden kann, und anschließend die Entwicklungen seit dieser Reform. Als Ergebnis wurden die Entwicklungen bewertet und ein Vergleich mit dem status quo des Jahres 1992 festgehalten.

Dieser „TÜV der Autonomie“ erbrachte auf mehr als 600 Seiten eine interessante Analyse. Im Allgemeinen konnte festgehalten werden, dass die Europäische Union einerseits zu einer Kompetenzeinschränkung, auch durch die Vorgaben der Wirtschafts- und Währungsunion, und andererseits zu neuen Möglichkeiten wie dem EVTZ geführt hat. Auf verfassungsrechtlicher Ebene ist das Verhandlungsprinzip zwischen Staat und Land Südtirol als tragendes Element deutlich zu erkennen, das vor allem in den Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut, aber auch in der Finanzautonomie zum Tragen kommt. Ebenfalls klar erkennbar ist, dass die Verfassungsreform 2001, obwohl sie grundsätzlich nur hinsichtlich jener Elemente auf Südtirol Anwendung finden sollte, die ein  Mehr an Autonomie bedeuten  - umgesetzt zum Beispiel durch den Wegfall der staatlichen Vorabkontrolle der Landesgesetze - auch negative Auswirkungen auf die Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie erzeugt hat, die sich in erster Linie aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs ergeben.

Die Ergebnisse lassen hinsichtlich der einzelnen Kompetenzen ein differenziertes Ergebnis erkennen. In einigen Bereichen ist die Zuständigkeit seit 1992 unverändert geblieben, in anderen ist ein Zuwachs an Kompetenzen bzw. eine Ausdehnung einiger Zuständigkeiten erfolgt, allerdings teilweise begleitet von einer gleichzeitigen Einschränkung in einigen Aspekten, während einige Sachbereiche deutliche Einschränkungen aufweisen.

Grundsätzlich unverändert blieben bis zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeiten Kompetenzen im kulturellen Bereich, aber auch im Bereich der öffentlichen Fürsorge und Wohlfahrt, der Schulfürsorge und Kindergärten.

Ein Zuwachs von Kompetenzen, der im Wege von ergänzenden Durchführungsbestimmungen zum Autonomiestatut und staatlicher Delegierungen erfolgte, lässt sich etwa im Bereich Zivilschutz, Straßenwesen, Unterricht und Nutzung der öffentlichen Gewässer sowie Energie (insbesondere der Wasserenergie) verzeichnen. Aufgrund der Günstigkeitsklausel der Verfassungsreform von 2001 gewann das Land Südtirol etwa im Bereich der Förderung der Industrieproduktion oder des Handels eine ausschließlich-residuale Gesetzgebungskompetenz hinzu, die weniger Schranken unterliegt als die statutarischen ausschließlichen Zuständigkeiten. Ebenso kamen konkurrierende Zuständigkeiten im Bereich Außenhandel oder Ernährung ins Portfolio Südtirols.

Allerdings zeigt sich schon in diesem Zusammenhang die Kehrseite der Reform von 2001, die so genannten transversalen Gesetzgebungsbefugnisse des Staates, also jene Zuständigkeiten, mit denen der Staat in jegliche regionale Kompetenz hineinregeln kann. Diese Art von Kompetenz ermöglicht dem staatlichen Gesetzgeber, etwa aus Gründen des Schutzes des Wettbewerbs die wirtschaftlichen Kompetenzen Südtirols wie Handel, Tourismus oder im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge zu beschränken, durch das Zivilrecht die Raumordnung und die Zuständigkeit für das Personal, und die organisatorische Autonomie Südtirols im Bereich der Verwaltungsverfahren durch die Festlegung der Mindeststandards der bürgerlichen und sozialen Rechte umfassend einzuschränken. Die transversale Zuständigkeit für den Schutz der Umwelt und des Ökosystems hat eine Reihe von ausschließlichen statutarischen Landeszuständigkeiten wie Landschaftsschutz, Zivilschutz oder Jagd hinsichtlich vieler Aspekte einengt.

Ebenso einschränkend zeigten sich aus der Perspektive des autonomen Gesetzgebers die unionsrechtlichen Vorgaben in Bereichen wie öffentliche Arbeiten, Handel, Fremdenverkehr oder Energie und insgesamt die Vorgabe der Beachtung der Grundfreiheiten und des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Insgesamt hat der Check des Zustands der Autonomie rein quantitativ zwar ein ungefähr zwischen Einschränkungen und Ausdehnungen ausgewogenes Bild ergeben. Es gilt aber festzuhalten, dass qualitativ durch die Verfassungsreform 2001 – die nach dem Scheitern der Reform von 2016 weiterhin den verfassungsrechtlichen Rahmen der Südtiroler Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie bildet – eine wesentliche Veränderung zugunsten der Vorgaben des staatlichen Gesetzgebers festgestellt werden kann. Einige dieser Einschränkungen konnten durch Durchführungsbestimmungen im Verhandlungswege mit Rom in den Jahren 2016 und 2017 wieder rückgängig gemacht werden, zum Beispiel im Bereich der Raumordnung und des Handels oder der Jagd.

Aus Sicht des 1992 völkerrechtlich garantierten status quo sind Ausdehnungen der Autonomie als erlaubt anzusehen, Einschränkungen hingegen rechtlich bedenklich und führen zur Verpflichtung Italiens, den Stand von 1992 wiederherzustellen. Dies im Einzelnen zu erreichen, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein.

Siehe dazu „Entwicklungen und Veränderungen der Südtiroler Autonomie seit der Streitbeilegungserklärung 1992“, Rechtsgutachten, erstattet von Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer und ao. Univ.-Prof. Dr. Esther Happacher, seit Kurzem abrufbar unter: http://www.provinz.bz.it/news/de/news.asp?news_action=4&news_article_id=589813

 

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