Vom Tanzen auf mehreren Hochzeiten

von Johanna Künzler und Dr. Sean Müller, 10.02.2016

Föderalismus bedeutet Machtteilung: Politische Entscheidungskompetenzen werden auf mehrere Staatsebenen aufgeteilt mit dem ideellen Hintergrund, keinem Individuum oder keiner Gruppe zu viel Einfluss über die anderen Bürger zuzugestehen. Auch in föderalen Systemen kann es allerdings zur Konzentration von Macht kommen, wenn eine Person auf mehreren Ebenen gleichzeitig vertreten ist. Wir haben uns die Anwesenheit von Schweizer GemeindepräsidentInnen in den 26 kantonalen Parlamenten genauer angeschaut – und kommen dabei auf zum Teil überraschende Ergebnisse. Dies ist nicht nur für Demokratietheoretiker, sondern auch für Föderalismuspraktiker relevant.

 

Demokratisches Ideal…

Einer der wichtigsten Grundsätze moderner, liberaler Demokratien ist das Prinzip one person, one vote: In der demokratisch legitimierten Entscheidungsfindung darf keine Stimme mehr Gewicht haben als eine andere. In föderalen Staaten gilt allerdings immer auch: one region, one vote. Was passiert, wenn jemand diese beiden Grundsätze zur persönlichen Machtakkumulierung verknüpft, bleibt jedoch meist unklar: In vielen Ländern fehlen Bestimmungen darüber, ob eine Politikerin mehrere Mandate zugleich innehaben darf oder nicht. Dies führt etwa in Frankreich dazu, dass über 90 Prozent der nationalen Parlamentarier nebenbei noch Mitglieder einer lokalen Exekutive oder Legislative sind (Navarro 2009). Sie haben so die Möglichkeit, in mehreren Entscheidungsprozessen präsent zu sein, ihre politischen Netzwerke auszubauen und anhand zusätzlicher Informationen Vorteile für die eigene Wählerschaft auszuhandeln. Die Kehrseite dieses Phänomens erscheint intuitiv einleuchtend: Es wird unklar, in wessen Auftrag ein Amtsträger handelt. Die Bestrebungen des politischen Systems, alle Bürgerinnen und Bürger gleich zu behandeln bzw. sie gleich zu repräsentieren, werden so unterlaufen. Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob eine solche Mandatsanhäufung die betroffenen Personen nicht überlastet und dadurch die Qualität ihrer Handlungen beeinträchtigen könnte.

 

…und föderale Realität

In der Schweiz gibt es ebenfalls kaum Vorgaben zur Ämterkumulation. Ein Blick auf die kantonalen Parlamente zeigt, dass diese Praxis aber auch hierzulande verbreitet ist: Im Jahr 2011 fanden sich 207 Legislativmitglieder, die zugleich Präsidenten einer Gemeinde waren. Dies entspricht beinahe einem Zehntel aller Parlamentsmitglieder auf kantonaler Ebene. Je nach Kanton variiert dieser Anteil beträchtlich (Abbildung 1). 

 

Abbildung 1


Quelle: Mueller (2015)

 

Dass nun die Befürchtungen der negativen Konsequenzen von Mandatsanhäufung nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt zum Ersten eine Studie von Cappelletti (2014). Demnach profitieren Gemeinden, welche ihre Präsidenten ins kantonale Parlament schicken, systematisch mehr vom innerkantonalen Finanzausgleich als solche, welche diese Gelegenheit nicht nutzen. Ein kürzlich erschienener Artikel (Mueller et al. 2015) geht in die gleiche Richtung: Kantone, in denen die Gemeinden mehr politische Mitsprache haben, geben tendenziell mehr aus als solche, in denen dies weniger der Fall ist.

 

Je näher, desto besser?

Die Mandatskumulation kann jedoch durchaus auch positive Effekte haben. Gerade GemeindepräsidentInnen zeichnen sich durch eine besondere Nähe zu Ihren Bürgerinnen aus, und wenn sie dann noch durch eine direkte (Majorz-)Wahl in ihr Amt gehievt worden sind, lässt sich ihre demokratische Legitimität nur schwer negieren. Dies mag zum Beispiel jene 25 schweizerischen StadtpräsidentInnen motiviert haben, welche am 4. Februar 2016 einen Appell aus den Städten unterzeichneten. Darin fordern sie das Schweizer Volk auf, in zwei Wochen bei einer nationalen Volksabstimmung den Bau einer zweiten Gotthardröhre abzulehnen – die 3 Milliarden würden in den Agglomerationen dringender benötigt. 

 

Zurück auf die nationale Ebene

Auch im Schweizerischen Nationalrat sitzen zurzeit 13 Stadt- oder GemeindepräsidentInnen und 4 Mitglieder von Gemeindeexekutiven (zusammen immerhin 9%), und in beiden Kammern zusammen finden sich gar sieben amtierende Regierungsräte (also kantonale Exekutivmitglieder; Quelle: Interessenbindungen NR und SR). Inwieweit aber auch diese Parlamentarier das föderale Mehrebenenspiel zu spielen fähig sind und zu wessen demokratischen und territorialen (Un-)Gunsten dies geschieht, bleibt Gegenstand weiterer Forschung.

 

Zitierte Literatur

Cappelletti, Fabio (2014). For the General Interest … of my Municipality: Multiple-Mandate Holding and the Political Economy of Fiscal Equalization in the Swiss Cantons. Paper presented at the Annual Congress of the Swiss Political Science Association. Berne, January 2014.

Mueller, Sean (2015). Theorising Decentralisation: Comparative Evidence from Sub-National Switzerland. Colchester: ECPR Press.

Mueller, Sean, Adrian Vatter and Tobias Arnold (2015). State Capture from Below? The Contradictory Effects of Decentralisation on Public Spending. Journal of Public Policy, FirstView.

Navarro, Julien (2009). Multiple Office Holders in France and in Germany: An Elite Within the Elite? Jena: SFB 580.

Informationen zu Johanna Künzler und Dr. Sean Müller



Johanna Künzler und Dr. Sean MüllerJohanna Künzler ist Assistentin für den Lehrstuhl Politikwissenschaft am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern. Dr. Sean Müller ist Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern.

johanna.kuenzler@ipw.unibe.ch, sean.mueller@ipw.unibe.ch

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