Wird die Pandemie-Krise vergeudet?

von Wolfgang Gratz, 18.01.2024

Krisen gelten, wenn sie kompetent aufgearbeitet werden, als Entwicklungschancen, die man nicht vergeuden sollte. Am 4. Mai 2023 kündigte die Bundesregierung die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Folgen der Pandemie durch eine Analyse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an. Ziele waren es, Schlüsse zu ziehen, um die Gesellschaft für künftige Herausforderungen resilienter zu machen (Karoline Edtstadler) und eine gewisse Grundsolidarität in der Bevölkerung zu erreichen (Johannes Rauch).

Am 21. Dezember 2023 stellte die Bundesregierung die zwei Wochen zuvor fertiggestellte Studie: „Nach Corona Reflexionen für zukünftige Krisen“ der Akademie in einem Medientermin vor. Die Einladung dazu wurde erst gut zwei Stunden zuvor an die Redaktionen ausgeschickt.

Im Mittelpunkt der begrenzten medialen Berichterstattung standen intransparente Entscheidungsprozesse („Mauscheln, Mauern und Moralisieren“), insbesondere bei Einführung der Impfpflicht, das Eingestehen von Fehlern der Bundesregierung sowie deren Absichten, ein Krisensicherheitskabinett zu etablieren, das strategische und transparente Entscheidungen fällt und einen Krisensicherheitsberater einzusetzen, Maßnahmen gegen die Wissenschaftsskepsis zu setzen und Gesundheitsberufe attraktiver zu machen.

Der Bericht selbst beschäftigt sich nicht explizit mit Fragen der Organisation des Öffentlichen, also der politischen Steuerung der Verwaltung als Produzent von Strategien, Konzepten, Gesetzesentwürfen und als Leistungserbringer sowie dem Operationsmodus der Verwaltung in der Krise. Dennoch enthält er hierzu mehrere grundsätzliche Aussagen:

Politische Entscheidungen müssen als Ergebnis rationaler Abwägung von Fakten und Wissen erkennbar sein. Die Lösung politischer Zielkonflikte soll durch einen transparenten Verständigungsprozess erfolgen. Die Legitimität der getroffenen Entscheidung ergibt sich durch die Qualität ihres Entstehungsprozesses.

In der Bewältigung neuartiger Krisen ist unter Bedingungen von Ungewissheit und Informationsmängeln „muddling through“, also Durchwursteln erforderlich. In Österreich kam es jedoch zu einer Politisierung der Entscheidungsprozesse durch eine Dominanz etablierter Interessen (u.a. Schulen gegen Skilifte). Dies stand vertrauensvollen ressortübergreifenden Kooperationen entgegen. Hingegen ist „skilful incrementalismus“ angezeigt, also intelligent, offen und umsichtig zu wursteln. Dies beinhaltet Verfahren zur Selbstkorrektur und Erweiterung inhaltliches Wissens. Es sind verbindliche Prozesse erforderlich, die laufend überprüft, reflektiert und korrigiert werden.

Hierzu kann die Wissenschaft Beiträge leisten. Für zukünftige Krisen sollte man die Einrichtung gut ausgestatteter Beratungsgremien rechtzeitig vorbereiten, in denen offene Abwägungsprozesse möglich sind. Deren Stärke liegt in der Möglichkeit, die Vielfalt von Perspektiven und Standpunkten sichtbar zu machen.

Die Ausführungen auf den Punkt gebracht: Gutes Krisenmanagement ist ein lernendes Krisenmanagement. Der Bericht lässt offen, wie solch ein umsichtiges und wirksames Krisenmanagement realisiert werden kann.

Die Politik selbst vermag dies nur ziemlich eingeschränkt zu leisten. Politiker haben dafür keine Zeit und häufig auch nicht die erforderlichen Kompetenzen. Sie benötigen andere Befähigungen, nämlich in der politischen Auseinandersetzung erfolgreich zu sein.

Es sind ureigenste Aufgaben der Verwaltung, der Politik fundierte Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung zu stellen, für Intelligenz beim Durchwursteln zu sorgen sowie als Nahtstelle und Bindeglied zwischen Politik und Wissenschaft zu dienen. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur für Krisen.

Die Initiative Bessere Verwaltung hat jedoch bereits vor knapp einem Jahr dargelegt, dass sich die Bundesverwaltung in einem bedenklichen Zustand befindet: Engführung durch im Tagesgeschäft verstrickte übergroße Kabinette, politisch gesteuerte Postenbesetzungen, Wissensverlust durch personelle Einsparungen und Auslagerungen von konzeptiven Aufgaben, auch Formulierung von Gesetzesentwürfen, an Externe.

Krisen sind Stunden der Nacktheit. In ihnen treten Stärken und Schwächen der Akteure unverhohlen zutage. Der Corona-Bericht der Akademie der Wissenschaften zeigt präzise ausargumentiert die eklatanten Schwächen des österreichischen Pandemie-Managements auf und weist die Richtung, in die das Öffentliche weiterzuentwickeln ist.

Die Initiative Bessere Verwaltung (besserevewaltung.at) hat 50 Forderungen formuliert. Sie zielen auf eine gestärkte Verwaltung ab, die unter dem Primat der Politik die erforderliche Eigenständigkeit hat und professionelle Personal- und Organisationsentwicklung betreiben kann. Das Ziel: gescheite, weltoffene, neu-gierige, nachdenkliche und zugleich ergebnisorientierte Menschen arbeiten in einer förderlichen Arbeitsumgebung produktiv miteinander. Insgesamt ist die Verwaltung befähigt, komplexe Kooperationssysteme zu gestalten und aus Erfahrung zu lernen. All dies erfordert den Wiederaufbau verloren gegangenen Vertrauens zwischen Verwaltung und Politik.

Die im Bericht der Akademie konstatierten systemischen Defizite hatten ihrer Folgen. Sie führten unter anderem zu einer Verkürzung der Entwicklungschancen von Schulkindern, einer in ihrem Ausmaß vermeidbaren gesellschaftlichen Polarisierung sowie zu einem massiven Vertrauensverlust der Regierung. Diese und die künftige Regierung wären in ihrem eigenen Interesse gut beraten, die Pandemie-Krise als Chance zu nützen und daher ihr Verhältnis zur Verwaltung neu zu gestalten und diese zu stärken.

Ähnliches gilt für die Einbeziehung und Beteiligung von Bürger:innen.

In der Öffentlichkeit wurden die Gruppendiskussionen, die die Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit dem Bundeskanzleramt in allen Bundesländern organisierte, kaum wahrgenommen, obwohl sie in dem Bericht ausführlich dargestellt sind. Es nahmen mehr als 300 Personen teil, die durch die Unterstützung der Statistik Austria einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung und mithin des Pandemie-Meinungsspektrums bildeten. Die sorgfältig designten und professionell moderierten eintägigen Workshops ergaben eine Fülle an konkreten Vorschlägen. An die Politik richtete die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer:innen vor allem die Forderungen, die Gesundheits- und Sozialberufe aufzuwerten, sowie: Die Politik soll Maßnahmen transparent entwickeln, laufend unabhängig prüfen lassen und gegebenenfalls ändern. 95 % äußerten nach den Veranstaltungen eine Bereitschaft, bei solchen oder ähnlichen Veranstaltungen wieder mitzumachen. 41 % stimmten dem Statement: „Die Teilnahme bei Österreich am Wort hat meine Sichtweise verändert.“ teilweise oder ganz zu.

Der Aufbau der Workshops war folgendermaßen: Zunächst wurden persönliche Erfahrungen während der Pandemie vorgestellt und möglichst ohne Bewertungen ausgetauscht. Die Phase 2 thematisierte Visionen: Das Ziel war die konkrete Beschreibung eines Tages in jener zukünftigen Krise, an dem sich bestimmte Aspekte ins Positive wenden. Der 3. Schritt war die Formulierung konkreter Empfehlungen an Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, in der Medienbranche tätige Personen sowie allgemein an Bürger:innen.

Der große Erfolg der Veranstaltungen ist mit dem psychoanalytischen Konzept des Containings zu erklären. Die Bewältigung bedrohlicher, beängstigender und Aggressionen auslösender Erfahrungen erfolgt in einem gut begleiteten Prozess, der aus drei Elementen besteht: 1. Verdauen, somit emotionale Verarbeitung der negativen Erfahrung, 2. Träumen im Sinne des Entwickelns von Fantasien und sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhängen und 3. Denken, also dem Schaffen von Ordnung und Klarheit.

Die Workshops waren keine therapeutischen Veranstaltungen, sie erzeugten aber Verständnis für andere Sichtweisen, gemeinsame Zielvorstellungen und konkrete Empfehlungen in eindrucksvoller Weise.

Den Gegensatz zu gelingenden Containing-Prozessen stellen psychische Dispositionen und Verhaltensweisen dar, die Psychoanalytiker:innen als „schizoid-paranoide Position“ bezeichnen. Menschen oder Gruppen haben dann eine ausgeprägte Tendenz, die Welt in nur Gute und nur Schlechte zu teilen, deutliche Aggressionen gegen die als nur-schlecht Empfundenen zu entwickeln und höchst empfänglich für Verschwörungstheorien zu sein." Es ist ein simples Geschäft, solche Positionen zu bedienen und zu verstärken. Dies gilt nicht nur für den Hauptakteur hierzulande. Man kann dies etwa dadurch betreiben, dass man aus einer Ökologisierung der Pendlerpauschale das Schreckgespenst der Abschaffung der Pendlerpauschale macht.

Vergleichsweise anspruchsvoll ist es, eine an Containing orientierte Politik zu betreiben. Hierzu genügt es nicht, bloß der Versöhnung das Wort zu reden. Es ist erforderlich, persönliche Erfahrungen ernst zu nehmen und nicht ins Moralisieren zu verfallen, positive und glaubhafte Zukunftsentwürfe zu vermitteln sowie gut durchdachte und wirksame Maßnahmen zu setzen. Dies schafft Vertrauen. Der Bericht der Akademie gibt in seinen verschiedenen Kapiteln hierfür wertvolle Hinweise.

Er macht aber auch die Kosten defizitärer Entscheidungsprozesse unter anderem in Zusammenhang mit Schulschließungen und der Impfpflicht eindrücklich nachvollziehbar.

Unsere Bundesregierung vermittelt nicht den Eindruck, den Bericht der Akademie in seinem Wesensgehalt positiv verwerten zu wollen. Dies drückt bereits die Inszenierung der Veröffentlichung aus: eine sehr kurzfristige Einladung der Medien unmittelbar vor den Weihnachtsfeiertagen. Ein Journalist sagte mir: „Schon wieder ein Ablauf, der uns nicht die Chance gibt, zeitnah fundiert zu berichten.“

Informationen zu Wolfgang Gratz



Wolfgang  Gratza.o. Univ.-Prof. Dr. Mag. Wolfgang Gratz ist Verwaltungsexperte, Organisationssoziologe und Proponent der „Initiative Bessere Verwaltung“.

gratz.partner@aon.at

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